Sören hat nicht zu dieser Party gewollt. Das ist nichts Neues bei Sören. Ungewöhnlich ist eher, dass er dann doch hingegangen ist.
Das hat Nora zu verantworten.
Sie ist bei Sören erschienen, seine wasserblaue Leinenjacke in der Hand, aus der sie die Flecken herausgewaschen hat. Es ist Sören nicht ganz recht, dass Nora ihm Flecken herauswäscht. Die ganze Nora ist ihm nicht ganz recht und dann doch wieder praktisch.
„Sören, du musst mal rauskommen aus deiner Blase“, hat sie gesagt, „ständig laden dich Leute ein und du gehst nicht hin. Irgendwann vereinsamst du. Niemand will dich mehr. Die Welt fließt um dich herum, und du klemmst dazwischen wie ein Stein im Fluss, der sich nicht bewegen will und dann irgendwann ins Trockene rollt und ausdörrt.“
„Wie soll ich denn ausdörren, wenn ich ein Stein bin“, hat Sören gefragt, „und wieso laden sie mich immer ein, wenn ich ihnen doch bloß in der Strömung klemme?“
„Du weißt schon, was ich meine“, hat Nora geantwortet, „und du weißt auch, warum sie dich alle einladen.“
Die Party ist schon im Fluss, als Nora ihn hineinschiebt und dann plötzlich weg ist, wie ein Laubblatt auf der Wasseroberfläche, das man eben noch gesehen hat.
Das Gegenteil davon tut Henry, der Gastgeber.
„Sören!“ materialisiert er sich aus einem Menschenschwarm heraus. „Wie schön, dass du gekommen bist!“ In einer umarmenden Geste schiebt er Sören in die Party hinein. Leise Musik und lautes Reden umrauscht Sören.
„Everybody, das ist …“
„Sören!“, ruft ein kleiner Chor, und ein herzhaftes Lachen strömt als Chorus hinterher.
„Sören, das ist everybody.“
Der Lachchorus sprudelt wieder.
Sören ist Henry dankbar, dass er ihm niemanden mit Namen vorstellt. Er kann sich Namen einfach nicht merken; die Menschen sehen einander alle so ähnlich wie ein Wassertropfen dem anderen, sie sprechen darüber, dass bald die Welt untergeht, erklären einander, wer daran schuld ist, und lachen dabei.
„Komm, ich zeig dir das Buffet.“ Henry zieht Sören weiter. „Sekt?“
Sören mag das perlende Süßwasser nicht; Sekt löst unweigerlich Kopfschmerzen bei ihm aus. Aber Henry hat ihm ein Glas in die Hand gedrückt.
Das Buffet kommt in Sicht, wie ein Wehr liegt es plötzlich vor ihm, und die Welle von Gästen, die ihn hergeschoben hat, bricht sich daran. Henry ist seitlich abgetrieben.
„Der Algensalat ist köstlich, den musst du probieren, Sören“, sagt eine junge Frau neben ihm. Sie ist von einer zerfließenden Schönheit, und er hat keine Ahnung, wie sie heißt, sie ist wahrscheinlich eine Freundin von Nora, wenn man die Hunderte von Bekanntschaften, die Nora ständig tippend und wischend pflegt, Freundin nennen kann.
„Wie das klingt, Algensalat.“ Noras Tipp- und Wischfreundin kichert. „Du kannst das sicher in deinem neuen Buch verwenden.“ Sie kommt samt ihrem Algenteller etwas näher an Sören heran. „Du schreibst doch an etwas Neuem? ‚Aale am Abgrund‘ ist so brilliant. Diese Tiefe. Ich habe es in einer Nacht durchgelesen.“
Das ist gelogen. Keiner kann ‚Aale am Abgrund‘ in einer Nacht lesen. Oder in einer Woche. Eigentlich kann man es überhaupt nicht lesen. Höchstens das erste Drittel. Vielleicht ist ja die Algenfrau eine der wenigen, die das geschafft haben. Aber Sören bezweifelt das.
„Genial, diese Idee der achtsamen Aale“, sagt sie.
„Achtsame Aale. Das erinnerte mich sofort an meine Therapeutin“, sagt eine weitere junge Frau, die nicht so schön ist wie die andere, aber ebenso gern Algen zu essen scheint; ihr Teller ist randvoll mit dem grünen Glibberzeug. Vielleicht ernährt sie sich von solchem Gemüse; ihr an allen möglichen Stellen zugängliches Kleid zeigt viel Knöchernes.
„Ach, das ging mir ganz ähnlich!“, freut sich ein Typ mit einer Fliege, sich neben den beiden Algengourmets platzierend. „Ich hatte eine Biolehrerin, die genau so aussah, wie das in dem Buch beschrieben ist. Fishy!“ Alle drei lachen, und zwei weitere Männer gesellen sich hinzu. Anekdoten von Fischen, Menschen und langen Gegenständen werden von laut schallendem Gelächter begleitet. Sören versucht, zum Büffet zu schlüpfen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürt.
„Natürlich, hier ist er. Immer dort, wo am meisten Spaß ist, da findet man Sören.“ Henry steht neben ihm, begleitet von einem karpfenartigen Mann in mittlerem Alter, der Sören anstarrt, als wäre dieser ein Brötchenstück, das ihm gerade von der Wasseroberfläche vor sein Maul gesunken ist.
„Sören Kallenbach“, sagt Henry, „Doktor Linse. Professor hier an der Uni.“
„Privatdozent“, verbessert Doktor Linse und geht sofort zum Angriff über. „Sie haben da in ‚Aale am Abgrund‘ eine Behauptung über die Strukturierung unserer Gesellschaft aufgestellt, die man auf keinen Fall so stehen lassen kann.“
Während ihm die Unhaltbarkeit einer Behauptung erläutert wird, die er niemals aufgestellt hat, versucht Sören, sich seitwärts wieder an das Buffet heranzuarbeiten. Sein Hunger ist so groß, dass ihm inzwischen sogar Algen recht wären. Und er hat solchen Durst, dass er einen Schluck Sekt aus dem Glas in seiner Hand nimmt. Sofort beginnt sein Kopf zu schmerzen.
Während Sören versucht, das halbvolle Glas irgendwo abzustellen, und nach einer weniger gewalttätigen Flüssigkeit Ausschau hält, hat sich ein weiterer Spezialist für gesellschaftliche Strukturierung gefunden und ein Rededuell mit Privatdozent Linse begonnen. Die beiden sprechen gleichzeitig, als wären sie Schauspieler in einer amerikanischen Serie. Ein Dritter kommt hinzu und redet ebenfalls mit, obwohl das, denkt Sören, eigentlich nicht möglich ist. Sören kann nicht mehr feststellen, wer welche These vertritt oder was diese mit seinem Buch zu tun haben könnten.
Als sich eine Lücke vor dem Buffet auftut, wirft sich Sören hinein. Er häuft sich einen Teller mit Kaviarbrötchen voll, ergreift ein leeres Glas und hält nach Wasser Ausschau, als sich eine Person direkt vor ihm aufbaut und ihn wässrig, aber nicht unfreundlich anstarrt. Ihre Kleidung schimmert forellengleich bunt, sie hat ein unbestimmbares Alter und ein ebensolches Geschlecht, was in Sören Hoffnung und Verunsicherung zu gleichen Teilen hervorruft.
„Sören, dass du gekommen bist, das ist wunderbar!“, ruft die Person, die ernstlich begeistert zu sein scheint. „Endlich können wir das Rätsel der Aale am Abgrund aus erster Hand lösen!“
Was für ein Rätsel? Er hat doch alles in das Buch geschrieben?
„Ist Sören hier?“ Eine zweite, ähnlich forellige Person hat sich schräg hinter der ersten angeordnet, im Schlepp eine ganze Gruppe von farblich changierenden Menschen.
„Ja, da ist er!“, raunt es wellenartig durch die kleine Gruppe.
„Ich sagte gerade zu Kim,“, sagt die vorderste Forelle, „dass die Theorie der Aale am Abgrund bezüglich des nahenden Untergangs so nicht haltbar ist.“
„Wieso denn der nahende Untergang?“, widerspricht Kim. „Davon ist überhaupt nicht die Rede!“
„Aber natürlich ist davon die Rede“, ereifert sich die erste bunte Person, „es geht um die Unmöglichkeit der Menschheit zu überleben.“
„Das ist nicht gleichbedeutend mit dem nahenden Untergang“, sagt Kim und wird von der Person hinter ihm oder ihr unterbrochen, die sich mit schlängelnden Bewegungen Eingang in den entstandenen Kreis verschafft. „Wir müssen erst einmal definieren, was Untergang bedeutet. Klar ist doch …“
„Natürlich wird die Menschheit untergehen, daran zweifelt ja niemand“, sagt eine weitere Person.
„Die Frage ist nur …“
„Das ist überhaupt nicht die Frage …“
„Noch ist es nicht zu spät …“
„Die Lösung wäre …“
„Wenn jede und jeder endlich einmal …“
„Das ändert überhaupt nichts …“
„Im Fluss bleiben …“
„Der Fluss ist ja gerade das …“
Die Gruppe schwankt und brandet hin und her, neue Beteiligte gleiten hinein, andere strömen empört zurück, Gläser mit allen möglichen Flüssigkeiten werden erhoben, geleert und tropfen auf den Boden.
Sören beißt in ein salziges Kaviarbrötchen und hält hilfesuchend sein immer noch leeres Glas nach oben. Eine barmherzige Wasserkaraffe ergießt sich hinein, und er trinkt es in einem Zug aus. Gleich darauf droht sein Schädel zu zerspringen. Das war kein Wasser in der Karaffe. Er hätte es wissen sollen. Vor Schmerz halb benommen, schlüpft er aus dem heftig erörternden Schwarm.
Er braucht dringend Wasser. Nora könnte helfen, aber wo ist sie? Er klettert auf einen Stuhl, stützt sich am Champagnerbrunnen ab und schaut über das Meer der hin- und herwogenden Köpfe. Die Musik und die Reden der Diskutierenden verschwimmen zu einem überlauten Rauschen, das in seinem geschundenen Kopf eine Welle bildet, die bricht und auf dem Rückweg mit sich selbst zusammenstößt und ihn nach unten zieht, tiefer und tiefer.
Er spürt den Aufprall nicht mehr, er sieht nur die vielen aufgerissenen Augen über sich, Forellenaugen, Hechtaugen, Karpfenaugen.
Wasser, will er sagen, aber kein Ton kommt aus seiner Kehle, er ist stumm, und der Fluss trägt ihn davon.