Die Person in der Krise

  • Beitrags-Kategorie:Kurzprosa
  • Beitrags-Kommentare:Ein Kommentar
  • Lesedauer:10 min Lesezeit

In dieser Kurzgeschichte habe ich versucht, eine genderneutrale Hauptfigur zu erschaffen. Dazu, finde ich, ist eine Krise sehr gut. Krisen sind universell und scheren sich nicht um Geschlechter. Als die anderen Figuren das gesehen haben, wollten sie auch unbedingt genderneutral sein. Na gut. Urteilt selbst, ob es gelungen ist.

Da war eine Person. Eine Person in der Krise. Man sah es der Person nicht an, dass sie in der Krise steckte. So eine Person war das. Die Krise hatte sich herangeschlichen, unsichtbar, wie ein Virus  hatte sie sich eingenistet oder wie eine Freundesperson, die man eigentlich nicht mehr so richtig als Freundesperson betrachtet, aber der man das bisher nicht gesagt hat, weil sie ohnehin so weit weg wohnt, aber jetzt ist sie plötzlich gekommen, weil sie eh in der Gegend zu tun hatte, Mandanten treffen oder Kunden beraten, die gar nicht getroffen oder beraten werden wollen, und jetzt ist sie da und man hat sie an der Backe. So eine Krise war das. Die Person steckte drin, und jetzt merke ich auch, dass das Bild mit der Freundesperson nicht richtig passt, aber vielleicht passt es ja doch, denn in so einer ungewollten Freundschaft steckt man ja auch drin, also lasse ich es erst mal stehen.

Die Krise war keine einfache. Sie war eine mehrfach induzierte Krise. Dass sie da war, merkte die Person daran, dass sie nicht mehr weiter wollte. Also nicht nur einfach nicht weiter wollte, wie man vor dem Ausfüllen der Steuererklärung nicht weiter will und es dann irgenwann doch macht. Die Person wollte RICHTIG nicht mehr weiter.

Sie wollte ihren Job nicht mehr machen. Es war ein guter Job, in dem sie schon viel Positives geleistet hatte. So viel Positives hatte sie schon geleistet, dass sie glaubte, alles in diesem Job jemals postiv Leistbare hinter sich zu haben. Mehr ging nicht. Und wenn sie jetzt wieder zurück in den Job ging, war nur noch das Negative übrig und verlangte geleistet zu werden.

Auch die Familienpersonen waren Teil der Krise. Die Partnerperson, eigentlich eine Frohnatur, versuchte möglichst viel in den Außendienst und auf Montage zu gehen und meldete sich stets für langwierige Aufgaben, die keine der Kollegenpersonen machen wollte. Deshalb wurde die Partnerperson, ohnehin eine beliebte Person, immer angesehener, und es war nur eine Frage der Zeit, dass sich eine Person fand, die diese Beliebtheit in eine ganz besondere Beliebtheit verwandelte. Einige Bewerberpersonen für diese Aufgabe hockten schon in den Startlöchern.

Die Kinder der Krisenperson, jedes für sich mit den stetig wachsenden Aufgaben von Pubertät, Alkohol und Drogenexzessen bis zur Leistungsgrenze beansprucht, wollten von der Krise der Krisenperson nichts wissen. Von Zeit zu Zeit meldete sich mal eine Lehrperson, um über die Krise eines Kindes zu informieren, aber wenn die Krise der Krisenperson durchs Telefon in ihr Ohr tröpfelte, sagten sie schnell: wir bleiben dran, und legten so bald wie möglich auf.

Wendete die Krisenperson ihren Blick nach innen statt nach außen, sah die Lage nicht besser aus. Ein Blick in den Spiegel am Morgen war eigentlich nur ohne Brille zu ertragen. Durch gelblich gequollene Haut zogen sich tiefe, zu Verästelungen neigende Furchen. Fältchen sind interessant, rief ihr die ebenso frohgemute wie kurzsichtige Partnerperson vom Nebenbadespiegel zu, aber das war nutzlos. Die Krisenperson kannte den Weg, den interessante Falten in Gesichtern zurücklegen. Ihre eigenen Falten hatten völlig andere Strecken gewählt.

In ihrem Inneren hatte sich ein Schmerz angesiedelt, der durch die verschiedenen Körperteile wanderte wie ein niederträchtiger Wurm durch eine Pflaume. Mal tat der Person der Unterbauch weh, mal der Brustkorb. Mal konnte sie den rechten Arm eine Woche lang nicht bewegen. Mal tauchte ein rätselhaftes Hämatom an der Nase auf. Mal stockte das Herz, mal schmerzte der Hals, mal der Rücken. Besonders der Rücken. Der eigentlich immer.

Klarer Fall, gähnt jetzt der Leser, alles psychosomatisch. Kann es jetzt mal losgehen mit der Geschichte? Schlauer Leser. Natürlich war das psychosomatisch. Das wusste die Krisenperson selbst. Und alle Heilerinnen und Heiler, die sie gefragt hatte, wussten das auch. Die Heilspersonen hatten verschiedene Feststoffe, Tinkturen, körperliche und soziale Maßnahmen empfohlen und sich dann der nächsten Krisenperson zugewendet. Heilspersonen haben einen gedrängten Einsatzplan, sie balancieren stets eine Vielzahl von Krisen gleichzeitig und müssen aufpassen, dass keine das Übergewicht bekommt.

Die Krisenperson, gebeutelt von der Krise, tat erst einmal das Übliche. Sie machte weiter. Sie tat so, als gäbe es die Krise nicht, weil es ja auch keinen Grund dafür gab.

Diese Methode bewährte sich nicht.

Die Krisenperson ließ sich krankschreiben. Diese Methode linderte einige Symptome, verschärfte jedoch andere. Insbesondere bei den Kollegenpersonen, die jetzt die Arbeit ihrer Kollegenperson mitmachen mussten.

Die Methode mit den Heilspersonen war auch nicht erfolgreich. Kaum war der Schmerz aus einem Körperteil vertrieben worden, tauchte er in einem anderen auf, und als die Körperteile alle waren, erfand er neue. Einmal hatte die Krisenperson Schmerzen in ihren Kiemen, ein anderes Mal in ihren Fühlern, einmal gar in ihren Reproduktionsorganen des anderen Geschlechts.

So kann es nicht weitergehen, sagte sich die immer populärer werdende, inzwischen am Rande einer neuen Familiengründung mit einer anderen Person stehende, frohgemute, jetzt aber besorgte Partnerperson.

So kann es nicht weitergehen, sagten die Kollegenpersonen. Manche von ihnen sagten nchts mehr, sie waren selbst jetzt auch in der Krise. SO KANN ES NICHT WEITERGEHEN! riefen die Kollegenpersonen, die jetzt auch noch die Arbeit der neuen Krisenpersonen mit machen mussten.

So kann es gern noch weitergehen, sagten die Heilspersonen, das ist ja unser Job. Nimm die Krise schöpferisch an und gehe gestärkt daraus hervor. Nimm dir dazu die Zeit, die du brauchst. Jegliches hat seine Zeit. Und was Heilspersonen noch so sagen, je nach Heilsrichtung.

So kann es nicht weitergehen, sagten die Kinder der Krisenperson, meinten damit aber nicht ihre krisengeschüttelte Elternperson, sondern die Gesellschaft. Verschwendende Personen, Klimakrise, fremdenfeindliche Personen, gefährliche Personen an der Macht, gewählt von ignoranten oder und böswilligen Personen.

Das stimmt, sagte die inzwischen von der Krise völlig durchgeschüttelte Person und schaute auf. Von dem Geschüttel der Krise hatte sich bei ihr Verschiedenes gelöst.

Zunächst das Gebiss. Es enthielt einige Kronen; es waren noch Goldkronen aus DDR-Zeiten dabei. In den krisenhaften Vibrationen waren einige davon von den Zahnstümpfen gefallen, und da die Person daran gewöhnt war, viel zu schlucken, hatte sie aus Versehen zwei davon verschluckt. Nun hatte sie drei Tage Zeit, sich ohne jene ehemaligen Teile ihres Gebisses durchzuschlagen, bis diese wieder, unbeschädigt und glänzend, inmitten der sonstigen Abfallprodukte des Krisenkörpers zum Vorschein kamen. Um sie nicht zu verlieren, baute sich die Krisenperson einen besonderen Filter, durch den sie drei Tage lang kackte.

Das nächste, was sich krisengeschüttelt löste, waren die Aufgaben des Mathematik-Abiturs eines der Kinder der Krisenperson. Dieses Kind galt bis dahin als Inhaber einer Dyskalkulie: einer Lernschwäche, die, im Gegensatz zu Legasthenie, nicht durch Vergünstigungen bei Prüfungen ausgeglichen werden kann. Deshalb drohte dem Kind eine schlechte Abiturnote oder (da es ansonsten eher faul war) ein Durchfall. Durch die Krise, die mit der Familie auch dieses Kind geschüttelt hatte, lösten sich jedoch die Matheaufgaben vollständig. Welche Mechanismen dabei wirkten und warum sich ausgerechnet diese Aufgaben lösten, ist nicht geklärt.

Außerdem löste sich auch die Beziehung der Krisenperson und ihrer Partnerperson, aber ebenso löste sich die gerade erst geknüpfte neue Beziehung der Partnerperson zu der Person, die gerade im Begriff gewesen war, eine neue Familie zu gründen. Zwei schmerzhafte Lösungen, insbesondere für die eigentlich frohgemute Partnerperson.

Außerdem lösten sich noch eine Reihe anderer Faktoren, wie zum Beispiel das Linoleum im Flur der Wohnung der krisengeschüttelten Familie sowie die Tapete im gleichen Raum. In den Kinderzimmern lösten sich einige Plakate von Rockbands von den Wänden, die aber sowieso schon seit einer Weile weg sollten, um politisch motivierten Postern Platz zu machen. Ebenso löste sich ein Schuss aus der eigentlich schon zur Ruhe gestellten Zündplättchenpistole des jüngsten Kindes der krisengeschüttelten Person.

Dieser Schuss war es, der die Krisenperson endlich aufscheuchte. Entsetzt schreckte sie von der Filterkonstruktion hoch, in die sie gerade ihre beiden vor drei versehentlich geschluckten Ersatzkörperteile hineingekackt hatte. Sie angelte das Gold aus der Scheiße, wusch es und betrachtete es eine volle Stunde lang.

Dann stand die Person auf.

Sie eilte aus der Wohnung, obszöne Flüche ausstoßend, weil sie über das losgelöste Linoleum im Flur gestolpert war und sich den Fuß verknackst hatte.

Als erstes humpelte die Person in den Frisiersalon, um sich die inzwischen wild gewucherten Haare/den Bart (falls sie einen hat) schneiden zu lassen. Ganz neu sah die Person jetzt aus, frisch, mit einem vorher noch nie gesehenen Design an Kopf- und Gesichtshaar, das ihr die unternehmungslustige und risikofreudige Frisierperson namens Percy verpasst hatte. Aufrecht und gestrafft verließ die Person Percy’s Frisiersalon, (sie störte sich nicht einmal an dem entsetzlichen Apostroph) und selbst ihre Falten hatten sich gelöst und machten sich auf einen neuen Weg, den Weg der interessanten Falten.

Von Percy’s marschierte die nun schon ehemalige Krisenperson direkt zur Zahnmedizinperson, um sie mit vorgehaltener Zündplättchenpistole zu zwingen, ihr alle krisengeschüttelten Goldkronen wieder anzukleben. Die Zahnmedizinperson sagte zwar, die Zündplättchenpistole müsste nicht sein, sie störe sogar ein wenig beim Hantieren mit Klebstoff und Desinfektionsmittel, aber die ehemalige Krisenperson mochte sich noch nicht so bald davon trennen.

Von der dentalen Praxis ging es direkt zur Arbeitsstelle. Zur ehemaligen Arbeitsstelle. Denn da war nichts mehr zu retten: Kaum überschritt die Person die Schwelle, regte sich die Krise noch einmal. Geschwächt wie sie war, machte sie sich doch noch einmal bemerkbar und fuhr durch den Körper der Person, um sie noch ein letztes Mal zu schütteln, Herz, Bauch, Rücken, besonders Rücken, Kiemen, Fühler, falsche Geschlechtsteile und alles. Das war genug für die jetzt schon krisenerprobte Person. Mit einem letzten, gewaltigen Ruck schüttelte sie alle Reste von Existenzangst, Verantwortungsgefühl und Rentenanspruchsdenken von ihrem frisch frisierten Kopf und die Schmerzen aus dem Körper. Sie marschierte in die Führungsetage, schob den Sekretär beiseite und schrie ihrer verdutzten Führungsperson ihre Kündigung ins Gesicht; dabei zeigte sie zur Sicherheit noch ihre frisch bekronten Zähne. Die Führungsperson wusste überhaupt nicht, wer sie da anschrie; sie hatte die eigentliche Person ja schon sehr lange nicht mehr gesehen, und außerdem hatte sie noch nie eine solch dramatische Person mit einer solchen Frisur unter ihren Miterbeitern und Mitarbeiterinnen gehabt, Gott sei Dank. Die Führungsperson nickte nur und war froh, als sich die Person würdevoll wieder entfernte, die Zündplättchenpistole in den Gürtel steckend.

Die Person war ebenfalls froh. Sie war so froh, dass die Krise vorbei war. Die Krise war gegangen, wie eine ehemalige Freundesperson, die alles ramponiert hat, das Geschirr zerschmissen, die Kinder aus dem Haus gegrault, die Partnerperson vertrieben, und die nun doch nach Hause muss, obwohl sie gern noch ein bisschen geblieben wäre, so schön ist es bei alten Freunden. Sie hätte ihr auch gern gesagt, dass sie gar kein Freund ist. Aber – wer weiß…

 

 

 

 

 

 

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Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Jonas

    Wow, sehr bewegend! Und wieder voll schön geschrieben 🙂 Ich finde die Genderneutralität spannend – und einmal eingelesen, stört es nicht mehr.