Vererbungslehre

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„So trägt jeder, ob er es nun will oder nicht, seinen Vater und seine Mutter in sich.“
Die leise Unruhe, die in Fabians Reihe entsteht, beschließe ich zu überhören. Ich spreche etwas lauter weiter.
„Zwei sind hier in einem. In einem Dritten. So ist dieser hochkomplizierte Vorgang, die Verschmelzung dieser beiden kleinen Zellen und ihrer Kerne, ein Wunder der Natur, der Biologie, des Universums…“
„Jetzt geht es wieder mit ihr durch“, flüstert Franziska auf der ersten Bank ihrer Nachbarin zu. Diese verleiert die Augen. Mit einer großen Anstrengung hole ich mich wieder zurück in den Klassenraum. Die Worte meines Ausbilders tönen mir noch in den Ohren: „Sie müssen brennen für Ihren Stoff. Begeistern Sie sich dafür, dann begeistern Sie auch die Schüler. Versuchen Sie, das klassische Dreieck: Schüler – Lehrer – Stoff ganz für sich zu durchdringen, mit Leben zu füllen. Das ist alles, was Sie zu gutem Unterricht brauchen. Der Rest ist Magie.“
Das hier ist ein sensibler Stoff. Obendrein in einem sensiblen Alter. Natürlich wissen die Schüler bereits vieles darüber, manche von ihnen sogar schon praktisch… Aber können sie darüber noch staunen? Über dieses Mirakel der Schöpfung? Aus zwei wird eins wird drei? Die magische Drei?
„Und hier begegnet sie uns wieder, die magische, geheimnisvolle Zahl, die Zahl der Märchen und Mythen. Um welche Zahl handelt es sich? Fabian?“
Fabian schreckt hoch. Seine Aufmerksamkeit, die sich unter der Bank gebündelt hatte, wandert mit fühlbarer Langsamkeit nach oben. Erstmalig in dieser Stunde versucht er, mich anzusehen. Das Vorhaben wird durch die Barriere schräg über das Gesicht drapierter Haare erschwert.
„Welche Zahl?“ Seine Stimme schnappt vom Bass ins Falsett über. Franziska und ihre Freundinnen kichern verhalten. Dann erfasst er die Frage, jedenfalls teilweise.
„Etwa hundert Millionen,“ antwortet er. Die Mädchen prusten los.
„Spermien“, fügt Fabian hinzu.
Die ehrfürchtige Andacht, die ich zu erwecken gehofft hatte, rückt in den Bereich der Illusion.
Ich habe meine Illusionen, er hat seine. Eine weit verbreitete ist der Glaube, Lehrer könnten nicht sehen, wenn etwas unter der Bank vor sich geht. Sie können. Sie haben nur nicht immer Zeit, sich auch damit zu beschäftigen. Oder Lust. Ich zwinge mich, zu seiner Bank zu gehen und seinen iPod einzukassieren. Den soll sich seine Mutter abholen. Wegen dem Gerät wird sie ja kommen. Wegen der letzten drei Sechsen kam sie nicht.
Dann gebe ich die Arbeiten zurück. Wieder hat Fabian eine Sechs.
Was ist nur mit ihm? Obwohl er alles mit nicht allzu viel Mühe erfassen könnte, zwingt er mich mit grausamer Hartnäckigkeit, seit ich in dieser Klasse unterrichte, ihm schlechte Noten zu geben. Ich leide unter diesen Noten. Jede davon ist eine Niederlage für mich. Für ihn nicht. Er nimmt sie gleichgültig hin. Am Ende des Schuljahres wird er sitzenbleiben. Warum tut er das?
* * *
Nun muss ich in der Schule antanzen wegen dieses iPods. Als hätte ich nicht genug zu tun als Alleinerziehende. Können die Lehrer nicht allein für Ordnung sorgen? Dazu sind sie doch da! Ein guter Lehrer rennt doch nicht alle nasenlang zu den Eltern, nur weil er mit den Kindern nicht zurechtkommt. Na ja, wir sind halt hier nicht in Schweden. Leider.
Fabian ist aber auch ein Trottel. Wirklich, genau wie sein Vater. Man sollte Frauen warnen, bevor sie Kinder kriegen: Achtung, Frauen, wenn ihr Söhne kriegt, werden die wie ihre Väter! Haltet ihr das aus? Das würde die Geburtenrate um die Hälfte senken.
Warum muss Karsten dem Fabian aber auch dieses teure Ding schenken? Er hat bestimmt wochenlang dafür gespart. Für mich hatte er nicht einmal Geld für das blaue Kleid zu meinem einundvierzigsten Geburtstag, an dem wir noch zusammen waren. Dabei habe ich ihm nun wirklich deutliche Andeutungen gemacht.
Aber der verstand ja nur Bahnhof. Wenn du was von dem wolltest, musstest du ihm das in roten Großbuchstaben auf den Computerbildschirm pinseln. Komisch nur, dass er andere offensichtlich besser verstanden hat. Viel besser. Klapp, da gingen die Antennen raus. Und bei mir wieder: Klapp, rein. Soll die Alte doch reden.
Na, die Neue wird schon sehen. Wir sprechen uns in drei Jahren wieder. Da hat die dann das ganze Gemuffel und Geschweige. Aber ich nehme ihn nicht wieder zurück. Schon schlimm genug, dass ich ihn alle zwei Wochen sehen muss, wenn er Fabian abholt. Wahrscheinlich hat er sich gedacht, dass wir dann noch eine Kaffeerunde machen, Vater Mutter Kind, glückliche Dreiheit, guck mal, wie Fabian gewachsen ist, hast du schon seinen Schnurrbart gesehen, ganz der Papa, ach, aber die schlechten Noten muss er von dir haben…
Dabei will Fabian gar nichts von ihm wissen. Seit er erfahren hat, wie lange Karsten uns schon betrogen hat, war er regelmäßig verschwunden, wenn sein Vater ihn abholen kam. Da kann ich aber nun auch nichts machen, der Junge ist vierzehn, da kann man ihn ja wohl nicht anbinden. Pech für Karsten.
Dafür muss ich in die Schule gehen und das blöde teure iPod holen.
Wieso eigentlich ich? Soll Karsten das doch machen. Schließlich ist das Ding von ihm. Da kann er sich gleich den ganzen anderen Mist noch mit anhören.

* * *
Das ging aber schnell. Gestern habe ich ihm das Gerät geschenkt, morgen soll ich es schon wieder aus der Schule abholen. Immerhin. Eine Nachricht von ihm.
Den iPod habe ich mir vom Munde abgespart. Oder vielmehr von Doreens Mund. Oder von ihrem Ohr. Dafür hat sie die Ohrringe nicht bekommen. Aber das weiß sie nicht.
So ein Gerät ist schon eine tolle Sache, ein Wunderwerk der Technik. Ich habe ihm alle meine Lieblingstitel draufgeladen. Vielleicht hört er sie ja mal. Vielleicht lässt er mich ja mal wieder an sich heran. Irgendwann.
Wenn ich nur wüsste, was los ist mit ihm! Wenn ich nur in ihn hineinsehen könnte. Aber er ist rätselhaft, so wie Anke. Die schlechten Noten, die Verstocktheit… Seltsam; er wird ihr immer ähnlicher, dabei sollte er doch jetzt ein Mann werden.
Die Trennung von ihm macht mich wahnsinnig. Sicherlich steckt Anke hinter seiner Weigerung, mich zu treffen.
Was soll ich nur machen? Ich würde wirklich alles für ihn tun. Dass ich die Sache mit Doreen so lange geheimgehalten habe, immer wieder hin- und hergeschwankt bin, das war doch alles wegen ihm. Und wenn mich Anke nicht hinausgeworfen hätte, wer weiß… Ich wäre vielleicht jetzt noch bei ihnen und hätte mich vielleicht sogar von Doreen getrennt. Nur wegen Fabian. Aber nun ist es zu spät, und er schließt mich aus seinem Leben aus.
Es ist so unfair. Irgendwann wird er es vielleicht einmal einsehen, wenn die Vernunft die Oberhand gewinnt. Obwohl, wenn er nach Anke kommt…
Morgen gehe ich jedenfalls erst einmal in Fabians Schule, den iPod abholen. Vielleicht sehe ich Fabian ja dann wenigstens einmal.

* * *
Fuck. Jetzt hat mich Frau Fischer mit dem iPod erwischt. Das hätte ich ihr nicht zugetraut, so voll wie die immer in ihrem Stoff steht. Heute ist sie ja wieder übelst abgegangen mit ihrer komischen Idee von der Dreiheit des Lebens in der befruchteten Eizelle. Das ist schon irgendwie krass, wie sie sich ins Zeug legt für ihre abgefahrenen Ideen und dabei so gar keine Ahnung hat, was unter den Bänken passiert, wenn das Wort „Spermium“ fällt. Heute hatte sie wieder das ausgeschnittene Kleid an, dazu die sexy Schweißflecken unter den Armen, die sich immer während der Stunde bilden…
Soll sie den iPod behalten. Ich wollte ihn sowieso erst nicht, weil er vom Alten kam. Aber ich konnte dann doch nicht widerstehen und hab mich dafür gehasst. Es war mir schon klar, als ich die Verpackung noch gar nicht richtig auf hatte, dass er seine ganzen antiken Schnulzen draufgeladen hat. Oh Mann.
Mama wird das Ding nicht abholen. Erst einmal weil sie nichts anfasst, was vom Alten kommt, und dann, weil sie mit Schule nichts zu tun haben will. (Das hab ich wohl von ihr, ha ha.) Und außerdem hat sie keine Zeit. Die braucht sie für ihren widerlichen Lover und dafür, sich Lügen auszudenken, damit ich keinen Verdacht schöpfe. Mit dem Alten ist ihr das ja gelungen. Aber ich bin nicht er.
Am liebsten würde ich auch von ihr weggehen. Aber wohin?

* * *

„Komm mal zur Tafel, Fabian.“
Ich habe vorgestern den Vater gesehen und mit der Mutter telefoniert; Fabian hat mein Mitgefühl. Für einen Moment habe ich die Vision, in einem kitschigen amerikanischen Film mitzuspielen, in dem es um die Selbstfindung und Wurzelsuche eines offensichtlich dem Untergang geweihten, extrem gutaussehenden Mischlingskindes geht. Die Vision vergeht, als ich die Ohrstöpsel aus der strähnigen Gardine herausploppen sehe.
Franziska gähnt.
„Ihr schreibt bitte mit, was Fabian sagt, und ergänzt dann, falls etwas fehlt.“ Sie gucken erstaunt.
„Fabian, beschreibe den Prozess der Teilung der befruchteten Eizelle bis zum Stadium der Gastrula.“ Ich richte mich darauf ein, minutenlang zu warten. Ich bin darauf vorbereitet. Er scheint meine Entschlossenheit zu spüren. Ich muss nicht einmal eine halbe Minute warten, bevor er beginnt.
Am Ende gibt es wenig zu ergänzen, selbst für Franziska. Ich gebe Fabian eine Eins, obwohl die Leistung eine Zwei war. Die Eins ist für mich. Man darf sich auch selbst mal belohnen. Außerdem kann ich es mir nicht verkneifen zu sagen: „Und so wird aus zweien eins. Oder drei. Ihr wisst schon.“ Diese Aussage gerät ins Klingeln hinein, so dass sie überhaupt nicht gehört wird. Alles verpufft. Mit der Ehrfurcht vor der Dreiheit, das kann ich mir abschminken.
Ich schiele durch die Hinausschlurfenden nach Fabian, der sich wieder mit seinem iPod verstöpselt. Vorgestern hat sein Vater das Gerät geholt, heute hat Fabian es wieder. Er sucht mit wachsender Unruhe darauf herum.
„Bitte alle hinaus zur Pause!“, sage ich. Er schleicht an mir vorbei, noch immer suchend. Ich werde es ihm nicht sagen, dass ich alle Titel aus den Siebzigern und Achtzigern gelöscht habe.

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