Sprüche und Komplexität

You are currently viewing Sprüche und Komplexität

Es ist der 11. Februar 2024; ich stehe auf dem Platz vor der Frauenkirche, die ich als Kind noch als eine Ruine gesehen habe, ein Überbleibsel des entsetzlichen Ereignisses vor 79 Jahren.

Vor mir steht ein mehrere Meter hoher Aufsteller mit dem Slogan:

A slogan can never catch the complexity of it all.

Ich bin familienhalber in Dresden, dieser schönen, barockbeladenen und generell von gemütlichen Menschen bewohnten Stadt, deren musikalischen und enorm freundlichen Dialekt ich schon immer sehr tröstlich fand. Der Aufstieg der Sprachmelodie am Ende fast jedes Satzes verströmt einen solch soliden Optimismus, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass Dresdner Personen miteinander streiten.

Konnte.

Vor 79 Jahren wurde diese gemütliche Stadt in Schutt und Asche gelegt, nachdem Deutschland dasselbe mit anderen Orten getan hatte, deren Einwohner sein machtbesessener Führer zu Untermenschen erklärt hatte, oder die einfach nur von Menschen bewohnt wahren, deren Führer er nicht war.

An dieses furchtbare Ereignis wird jedes Jahr erinnert. In seiner Entsetzlichkeit eignet es sich offenbar dafür, anderes potenziell Entsetzliches darauf zu türmen. Deshalb plant heute eine Gruppe von wirr gesonnenen Menschen (oder ihre Führer), nach dem Vorbild ihrer (und unserer) Nazi-Vorfahren mit Fackeln durch die Stadt zu ziehen, Angst zu verbreiten und das Ganze einen „Trauermarsch“ zu nennen.

Die Dresdner wollen das nicht auf sich sitzen lassen und halten dagegen. An allen möglichen Orten sind Gegendemos anberaumt, und weil ich das enorm wichtig finde und gerade in Dresden bin, habe ich mich durch den Regen über die fast überlaufende Elbe auch auf den Weg dahin gemacht, zusammen mit dem Menschen, mit dem ich mein Leben teile.

Erst einmal müssen wir die richtige Demo finden. Auf dem Neumarkt, dem Platz vor der Frauenkirche, sind sie nicht, die Bunten. Statt dessen steht dort der großer Aufsteller mit dem sich selbst zum besten haltenden Slogan.

A slogan can never catch the complexity of it all.

Vor dem meterhohen Spruch steht ein junges Pärchen und guckt touristisch und verloren abwechselnd ins Nichts und auf seine Handys und bemerkt nicht, dass ich zum Fotografieren ansetze. Ich frage sie, ob sie mit aufs Foto möchten; sie springen beiseite wie verschreckte Rehlein, und wir suchen weiter nach den Naziaufhaltern, denen wir uns anschließen wollen.

Auf der Suche nach dem nächstgelegenen Treffpunkt farbenfroher Dresdner mit bunten Regenschirmen geraten wir in eine farblich eher schwarz angelegte Gruppe Antifaschisten, die entschlossen zu der von den Nazis zum Trauern vorgesehene Straße marschieren. Dort bleiben sie stecken; die Straße ist von einer Mauer von Polizeiautos und Polizisten in schwarzen Uniformen gesäumt, die die Antifa und die Fa voneinander trennen sollen.

Aus den sozialen Medien, die wir auf der Suche nach den bunten Demonstierenden konsultieren, lerne ich ein neues Kosewort; die Lautsprecher, die Demos begleiten, heißen Lautis. Die Lautis der Antifa bringen mein Zwerchfell zum Vibrieren und mein daran gekoppeltes Inneres durcheinander, sodass wir ein Stückchen weiter gehen, an der Mauer der schwarzen Polizisten und ihrer weißblauen Autos entlang. Auf einigen der Autos steht ein Werbe-Slogan: Verdächtig gute Jobs.

There is some complexity in this slogan, finde ich.

Neben einigen anderen Dresdnern stehen wir im Regen herum, vor uns die Polizei, auch im Regen. Schließlich kommen die Nazis herangetrauert, die für sie zugemauerte Straße entlang. Wenigstens regnet es auch auf sie. Auch sie sind schwarz gekleidet und sehen so sehr wie Nazi-Stereotype aus, dass sie schon fast nicht mehr echt wirken; sie tragen Bomberjacken und Frisuren wie die Schlägertypen in Filmen über das Dritte Reich. Nur Fackeln tragen sie nicht, die sind vielleicht nassgeregnet. Aber ihre Musik ist keine Nazimusik; aus ihrem Lauti schallt Vivaldi, ein langsamer Satz aus den Vier Jahreszeiten. Es ist bizarr.

Nun gilt es, sie durch die Autos und die Polizistenreihe hindurch auszubuhen.

Schämt euch, schreien die eigentlich lustigen Dresdner, die jetzt wütend sind, über die Polizistenmauer hinweg. Die trauernden Nazis hinter der Mauer grinsen, um zu zeigen, dass sie sich nicht schämen. Sie sehen dabei irgendwie unwohl aus.

Auch mir ist unwohl.

Erstens, weil ich berufs- und charakterbedingt immer bemüht bin, in schwierigen Situationen alle Seiten zu verstehen. Jetzt geht das nicht.

Zweitens regnet es unaufhörlich, und Teile von mir weichen langsam durch.

Drittens, vor allem, brülle ich, entgegen landläufigen Ansichten über den Lehrerberuf, nicht gern Leute an. Besonders ungern schreie ich auf Minderheiten ein, und die Nazis sind hier gerade, zum Glück, eine Minderheit.

Gleichzeitig fühle ich mich verpflichtet, diesem üblen pseudotrauernden Gesindel mitzuteilen, dass es sein Treiben einstellen soll. Denn wer jetzt nicht brüllt, glaube ich, wird später angebrüllt, und dann ist es zu spät. Von diesem Später schienen die trauernden Nazis zu träumen, ich glaube das ihren Mienen anzusehen.

Bei Nazis verpisst euch – keiner vermisst euch! rufe ich erst einmal nur den zweiten Teil mit.

Es gibt – kein Recht – auf Nazipropaganda! geht schon im Ganzen.

Gern würde ich einen schönen Slogan erfinden, aber mein Kopf ist leer und dumpf von dem vielen Lärm und Gebrüll und Schwarz, und von der Wut, die durch die Luft fliegt und sich mit den Regentropfen vermischt.

Ich möchte einen Slogan finden, der die Nazis wegjagt, weg von hier, so wie die Nazis andere Menschen wegjagen wollen, die bei uns Schutz suchen oder gefunden haben. Aber wo sollen sie hin, die Nazis?

Too much complexity. Ich finde keinen Slogan.

 Nazis raus!, rufe ich mit den anderen, in Ermangelung von etwas Besserem. Dann drehe ich mich um und sehe hinter mir einen nassen Demonstrierenden mit einem Schild, auf das er liebevoll ein Känguru mit roten Boxhandschuhen gemalt hat, daneben einen Regenbogen und den Slogan: Nazis boxen. Ein guter Slogan, kurz und unkomplex. Wir grinsen uns zu, der nasse Känguruträger, das Känguru und ich.

Vivaldi missbrauchend, nass und weniger zahlreich als angekündigt, latschen die trauernden Nazis weiter. Dass ihnen in zweihundert Metern der darmerschütternde Lauti der Antifa und dessen Anhänger bevorstehen, ahnen sie noch nicht.

So wie wir nicht ahnen, was uns bevorsteht. Wenn wir sie nicht unaufhörlich ausbuhen, die Nazis.

Schreibe einen Kommentar