Rede zum Abitur 2024
Liebe Abiturienten und Abiturientinnen, liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebe Eltern, Stiefeltern, Geschwister und Halbgeschwister, Freunde und Freundinnen, liebe mit den Abiturienten und Abiturientinnen in irgendeiner Weise Verbundene,
Schon die Anrede zeigt es: Es ist komplex.
Nicht nur die Sprache, sondern auch: Die Schule. Die Persönlichkeiten. Die Möglichkeiten für eure Zukunft. Die vielen Dinge, die man ständig gleichzeitig tun muss, um nichts zu verpassen.
Die gesellschaftliche Situation. Die globale Situation.
Geht es nicht einfacher?, möchte man schreien, man möchte es als hundert Meter langes Poster über die Supermarktregale spannen, mit Großbuchstaben in die Fenster von Formularen schreiben, als Popup auf allen Startseiten der sozialen Medien hochpoppen lassen. Geht es nicht einfacher?
Es ist komplex.
Aber, hier ist mein Trost: Liebe Abiturient*innen, ihr habt die erste Phase eures Lebens gemeistert! Trotz aller Komplexität! Voller Staunen schaue ich mir an, wie ihr das gemacht habt.
Erinnert ihr euch noch? An die fünfte Klasse? Hier galt es, ein neues Gefüge aufzubauen, ein fragiles Gebilde aus kleinen, wachsenden Menschen, die sich hineinsortieren müssen und dabei andere wegschubsen, selbst geschubst werden, sich mit anderen zusammentun und wieder abstoßen.
Eine Szene:
Ich betrete den Klassenraum.
Auf dem Boden ineinander verkeilt, rollen mehrere Jungs herum, jeder lautstark auf der Suche nach seinem Platz im Leben.
Ein weiterer Junge versucht, mittels einer Spinne (die eigentlich auf der Suche nach einem warmen Plätzchen für den Herbst hereingekrabbelt ist) so viele Mädchen wie möglich zum Schreien zu bringen. Die Mädchen glauben (durch den Einfluss irgendwelcher sexistischer Filme), dass Mädchen sich vor kleinen haarigen Tieren fürchten müssen. Sie versuchen, die absolut höchsten und lautesten Töne zu erzeugen, deren die menschliche Stimme fähig ist. Es gelingt ihnen.
Mehrere Schüler*innen teilen mir etwas mit, z.B.
„X (ich nenne mal jetzt keine Namen) hat mir meine Federmappe weggenommen.“
„Das ist überhaupt nicht Xens Federmappe.“
„A hat B und C gehauen“.
„B und C haben mich provoziert.“
„D ist auf dem Klo und will nicht mehr raus.“
„Ich habe die Hausaufgabe nicht verstanden.“
„Ich habe die Hausaufgaben gemacht, aber das Heft liegt zuhause.“
Alle diese Mitteilungen erfolgen zeitgleich, während die weggenommene Federmappe vorbei geflogen kommt, die Spinne sich befreit hat und die Mädchen ihre stimmliche Leistungsfähigkeit auf den Stühlen stehend weiter herausarbeiten.
Ich atme so tief, wie ich es im Geburtsvorbereitungskurs gelernt habe, und denke:
Es ist komplex.
Ihr habt es geschafft, diese Zeit zu bestehen.
Ihr habt die Spinnen besiegt, die Stimmen geschult, die Mitschüler vom Klo geholt, die Federmappen zugeordnet und sogar die Provokationen irgendwann in Freundschaft verwandelt. Und ihr habt euch vom Fußboden erhoben.
Als ihr euch gerade in eurer Klasse sortiert und ein fragiles Gleichgewicht gebildet hattet, erfolgte eine weitere Attacke nie geahnter Komplexität: die Pubertät.
Körperteile wachsen und wollen Aufmerksamkeit. Das eigene Aussehen überrascht dich täglich mit neuen Gegebenheiten, die du deinem eigenen Ich überhaupt nicht zuordnen kannst. Die eigenen Eltern werden plötzlich zu unmöglichen Personen mit unhaltbaren Ansichten und unzumutbaren Forderungen. (Die Lehrer sind das ja sowieso.)
Plötzliche Einsichten über die Beschaffenheit der Welt stürzen dich in tiefste Verzweiflung.
Und dann noch die Liebe; sie überfällt dich aus dem Hinterhalt, wirft dich aus der gerade erst halbwegs gefundenen Bahn und überzieht den Rest des Universums mit Nichtigkeit.
Oh, sie ist komplex, diese Zeit.
Aber auch diese Herausforderung eines irgendwie nicht so ganz durchdachten Schöpfungsentwurfs habt ihr gemeistert, liebe Abiturient*innen.
Durcheinandergebeutelt vom Auf und Ab dieser Zeit, habt ihr Blicke in eure eigenen komplexen Persönlichkeiten geworfen. Und – vielleicht – ist bei der einen oder dem anderen das Geheimnis der Selbsterkenntnis durchgeschimmert: dass man die anderen als Spiegel braucht, um sich selbst zu verstehen.
Und da kam ein weiterer Schlag: Corona.
Ihr wart plötzlich zuhause an den Computer gefesselt, in Süßigkeiten abgesoffen, von den Freunden abgeschnitten, zur Bewegungslosigkeit verurteilt.
Was das angerichtet hat, damit sind jetzt Geschwader von Wissenschaftlern beschäftigt. Sie werden noch eine Weile brauchen, um das herauszufinden.
Es ist komplex.
Ich bin mir sicher, ihr habt es geschafft, auch daraus etwas zu lernen. Zum Beispiel:
Wie man gleichzeitig am online Unterricht teilnehmen, seine Lieblingsserie gucken und mit allen Freunden chatten kann.
Oder wie man etwas lernen kann, ganz ohne den umständlichen Umweg über die Schule zu nehmen.
Oder was man alles lernen kann. (Zum Beispiel, während der Schulzeit mit Kryptowährungen zu zocken – eine Fähigkeit, die, so wurde mir zugetragen, sogar auch nach Corona von wohlhabenden und risikofreudigen Schülern zur Perfektion getrieben wurde.)
Oder: wie man ein schönes Essen kocht. Eure Videos dieser original Coronazeit-Aufgabe waren zum Teil so gut, dass ich sie nachgekocht habe. Danke!
(Zum Glück hattet ihr schon vorher analog bei Frau Simon gelernt, wie man einen Tisch abwischt.)
Ich habe jedenfalls in dieser Zeit eine ganze Menge gelernt. Zum Beispiel, dass Corona die Gesetze der Wahrscheinlichkeit außer Kraft setzt: Zwanzig Kameras können plötzlich gleichzeitig kaputtgehen (wenn sie im Unterricht eingeschaltet werden sollen).
Oder: Wer nach dem Ende der Online-Stunde immer noch da ist, ist eingeschlafen. Oder war gar nicht da und der kleine Bruder musste den Bildschirm überwachen und hat ein Computerspiel gefunden.
Oder: Man kann super obenrum Unterricht machen, ohne sich untenrum ordentlich anzuziehen.
Aber um mich geht es hier nicht.
Es geht um euch! Denn kaum ist der Alptraum (oder, für manche, der Traum) der Corona-Zeit vorbei, kommt ihr in die Oberstufe. Eure Klasse, die ihr vielleicht vermisst und dann wiederbekommen habt, wird aufgelöst. Irgendwie sollt ihr jetzt die ganze Komplexität des Erwachsenwerdens darstellen: selbst Fächer aussuchen, Verantwortung übernehmen, vielleicht sogar für ein Team.
In den Teams zeigt sich jetzt mit neuer Klarheit, was für Menschen aus euch geworden sind. Verschiedene Typen bilden sich heraus.
Die, die immer schon alles zwei Wochen vorher haben und deswegen aus schierer Verzweiflung die Arbeit für die anderen mitmachen.
Die, die sich sicher sind, dass das schon irgendwie wird und dann vorm Abgabetermin im Wechsel große Mengen Beruhigungs- und Aufputschmittel schlucken.
Die, die den Termin der Abgabe, manchmal auch die Inhalte der Arbeit, eigentlich nicht so richtig kennen, es hat ihnen ja keiner gesagt.
Hier zeigt sich in neuer Form:
Es ist komplex.
Die verschiedenen Typen der Lehrenden sind ein ganz eigenes Thema. Auch mit denen muss man klarkommen; innerhalb eines Tages kann man es mit Pedanten und weniger Achtsamen, mit Hochintellektuellen und Bodenständigen, mit Resignierten und unerklärlich Hochbegeisterten, kurz: mit milde Verrückten aller Couleur zu tun haben.
Es ist komplex.
In dieser Phase habt ihr Flexibilität gelernt.
Ihr habt, gemäß der Tradition unserer Lehrvorgaben aus dem neunzehnten Jahrhundert, einen Haufen Wissen brav heruntergeschluckt, mehr oder weniger verdaut und vielleicht schon ausgeschieden.
Ihr habt, hoffentlich, ein paar Anstöße zum Denken bekommen.
Ihr habt ein paar Methoden gelernt, mit dem Leben umzugehen. Zum Beispiel, wie man hinter seinem Tablet so guckt, als würde man am Unterricht teilnehmen, obwohl da gerade die wildeste Zockerei im Gang ist. Oder, wie man den Lernstoff so reduziert, dass man gerade noch so durchkommt und trotzdem noch ein Leben hat.
Ihr habt Freunde gefunden – mögen sie fürs Leben halten. Vielleicht sogar die Liebe?
Und wenn es ganz, ganz gut gelaufen ist, habt ihr Kreativität gelernt:
Die Fähigkeit, aus komplexen Sachverhalten etwas Eigenes zu machen.
Denn es ist komplex.
Der elften Klasse, in der man eigentlich nie für etwas richtig Zeit hat, weil schon das Nächste lauert, (obwohl – wo kommen eigentlich die vier Stunden Screentime täglich her?), folgt die wilde Jagd der Zwölften, die eigentlich, im Rückblick, nur ein hektisches Augenzwinkern lang war. Und plötzlich sind auch die Prüfungen vorbei, diese Riesenwand aus schwarzgrauen Gewitterwolken, sie ist über euch hinweggefegt – oder ihr seid durch sie hindurchgesprungen (je nach Typ). Und da seid ihr jetzt!
Ihr habt es geschafft! Ich gratuliere!
Dieses Gefühl, frei zu sein, den Druck los zu sein, die Welt vor sich zu haben, überall Türen, die sich auftun, wenn ihr es wollt.
Welche ihr aufmachen werdet, welche nicht – das ist eine schwere Frage. Enorm komplex.
Ich kann euch aber sagen: Welche Tür auch immer ihr aufmacht, es ist die richtige! Und wenn es euch in dem Raum, in den sie führt, nicht gefällt, dann gibt es auf der anderen Seite auch noch eine Tür.
Es ist nämlich komplex.
Mir scheint, die Welt, in die ihr jetzt geht, in der ihr ja schon seid, ist komplexer als je zuvor.
Und weil einige Menschen mit dieser Komplexität nicht klarkommen, möchten sie es sich einfach machen. Was sie nicht verstehen, schieben sie auf andere. Auf die, die aus anderen Teilen der Welt hier Zuflucht suchen. Auf die, die Erfolg haben. Auf die Amerikaner. Auf die Radfahrer, auf die Jugend, auf die, die Genderendungen verwenden. Auf die Politiker. Auf alle, die aktiv etwas tun.
Sie schaffen sich eine Scheinwelt der Einfachheit. Sie sind dagegen; das ist so viel leichter, als für etwas zu sein.
Und Leute, die nach der Macht streben, machen sich das zunutze. Sie versprechen Einfachheit und Ordnung. Und was sie wollen, ist Einfältigkeit und Macht.
Fallt nicht auf sie herein, egal wo sie euch begegnen. Das ist mein Wunsch. Denn ihr habt Komplexität geübt. Ich habe es gesehen!
Wenn sich eure vielfältigen Gedanken und Ideen in eine Aufgabe ergießen.
Wenn ihr Dinge von mehreren Seiten betrachtet.
Wenn ihr nach Gründen für etwas sucht. Etwas wissen wollt, Wissenschaftler werdet.
Wenn ihr andere ausreden lasst oder ihnen gar zuhört.
Wenn ihr die Smartphones als Tools betrachtet, nicht als Taktgeber für eure Zeit.
Wenn ihr etwas bewegen wollt, statt darüber zu meckern:
Gruppen für Schülerinnen gründen, die ein besonders komplexes Leben haben: die aus anderen Ländern stammen. Die eine nicht normative Sexualität haben. Aufgaben übernehmen, die sich nicht sofort in Prestige oder guten Noten auszahlen. Statt zu jammern, dass die Schule einem bestimmte Sachen (z.B. den Umgang mit Word) leider nicht beibringt, einen Kurs veranstalten. Sogar selbst eine Instrumentalgruppe leiten! Mit allem, was dazugehört, vor allem unerschütterlicher Optimismus. Anderen zuhören. Den Standpunkt einmal wechseln. Freund sein. Künstlerin sein! Das Unaussprechbare und Komplexe des Lebens in Musik, in Wort, in Theater umwandeln und hinausbringen!
Solange ihr diese Dinge tut, bin ich zuversichtlich. So lange können die großen Vereinfacher da draußen euch nichts anhaben.
Aber jetzt wird erst einmal gefeiert! Und dann ran ans Neue! Denn
Es ist komplex.
Outtakes
(aus Gründen der Kurzundknackigkeit bei der Rede weggelassen)
Eine Situation aus dem Lehrerinnenalltag: Vielen kommt sie sicherlich bekannt vor.
Ich habe gerade einen vielgestaltigen Sachverhalt in den schönsten Farben geschildert, bebildert, erklärt, von allen Seiten beleuchtet, anschaulich gemacht, mit Beispielen und Gegenbeispielen erörtert, bin vollkommen erschöpft von meinem eigenen Gewitter an Methoden. Jetzt sollen die Lernenden dazu eine Aufgabe bearbeiten. Die Aufgabe leuchtet in großen Lettern in der Präsentation, die ich in der letzten Nacht bis viertel drei noch erstellt habe.
Dann meldet sich einer.
„Können Sie das noch mal erklären? Ich hab das nicht verstanden.“
„Welchen Teil hast du denn nicht verstanden?“
„Alles.“
Eine Situation, aus dem Leben eines Schülers: Du sitzt in der Klasse, im Blutkreislauf noch die Reste der Drogen oder das immer noch nicht geschaffte Lernpensum vom Wochenende, im Körper dieser Mini-Jetlag, den du jeden Montag hast, wenn du seinen Biorhythmus wieder komplett umstellen musst. Der neue Freund von deiner Mutter nervt. Diese Bewerbung musst du auch noch schreiben, aber wofür sollst du dich eigentlich bewerben? Die letzten Texte aus der Chatgruppe beunruhigen dich. Du willst den Chat ignorieren, hast es aber nicht geschafft. Es ist super heiß, kommt der Klimawandel jetzt doch zu uns? Wählen gehen musst du auch noch, aber wen sollst du wählen? Irgendjemand hat letzte Woche mehrmals versucht, deinen Computer zu hacken. Deine beste Freundin hatte gestern einen Breakdown. Und gerade als die Lehrkraft eine ihrer unverständlichen Fragen stellt, vibriert das Telefon in deiner Tasche.
Tolle Abi-Rede, sehr komplex:-)
Habe es endlich geschafft sie zu lesen, nachdem ich im fließenden Übergang von den Sommer- in die Herbstferien gelangt bin. Überhaupt sehr ansprechende Website, werde weiterstöbern! Liebgruß