Ich habe vor kurzem die Erkenntnis gewonnen, dass mit dem Schöpfer etwas Seltsames passiert sein muss. Darauf gebracht haben mich die Schmetterlinge.
Wisst ihr, was im Innern einer Puppe vor sich geht, wenn sich die Raupe zum Schmetterling umwandelt.
Lange Zeit habe ich geglaubt, der Raupe würden irgendwie Flügel wachsen, die komischen Stummelbeine stummelten sich in den Bauch des geheimnisvollen Tieres zurück und ordentliche, lange Gliedmaßen träten an ihre Stelle. Das gleiche Schicksal wie die Beinchen ereilte, so dachte ich bisher, das Organ des sprichwörtlichen und maßlosen Fressvorgangs. Es wiche, so meine Annahme, dem grazilen und nach jeder Nektaraufnahme vorbildlich eingerollten Rüssel.
Falsch! Alles falsch! Zu meiner größten Verwunderung habe ich vor einiger Zeit aus einer um die Bildung der Nation bemühten Zeitschrift folgendes erfahren: Die harte Schale des pubertierenden Insekts verbirgt etwas ganz anderes: Chaos. Das ganze Tier zerfällt in eine graue und höchstwahrscheinlich klebrige oder gar schleimige Masse. Komplett. Ein Ahnungsloser, der dieser Masse ungewarnt begegnet, würde sich voraussichtlich voll Ekel und Grauen abwenden, um sich ansehnlicheren Dingen zuzuwenden.
Als ich verblüfft die Zeitung sinken ließ, wurde mir blitzartig eines klar. Diesen Vorgang kenne ich! Er begegnet mir täglich. Vormittags sogar stündlich. Im Unterschied zu den verpuppten Raupen jedoch gibt es in unserem Fall zwischen der unheimlichen, ihren eigenen Gesetzen gehorchenden chaotischen Zell-Masse und mir keinen schützenden Chitinpanzer.
Offenbar hatte es der Schöpfer eilig, als er den Menschen schuf. Beim Schmetterling war noch alles in Ordnung. Ei, Kinderstadium, Zellchaos mit einer Hülle, die allen Sicherheitsvorschriften entspricht. Neuordnung der Zellen, Schmetterling. Da sah man, dass es gut war.
Und der Mensch? Der Mensch??? Offenbar war der Schöpfer beim Designen des Übergangs vom Kind zum Erwachsenen nicht gerade in Schmetterlingslaune. Möglicherweise war er abgelenkt.
Oder man hat ihn betrogen. Vielleicht hat ihm ein hinterhältiger oder unfähiger Mitarbeiter als Korrekturexemplar für den Vorgang „Pubertät“ eins dieser lieblichen Mädchen vor die Nase gehalten, die freudvoll und verträumt vom blonden, reizenden, rosa verzierten Kind ins Stadium der blonden, schlanken Jungfrau hinüberhüpfen.
So viel ist sicher: er hat nie, NIE! auch nur einen Blick in eine achte Klasse getan. Er muss sofort nach der Schöpfung des Menschen für ziemlich lange Zeit, jedenfalls mehr als vierzehn Jahre, verreist sein.
Hätte er gesehen, welche Formen das nackte, ungeschützte Zellchaos der pubertierenden Homo Sapiens anzunehmen droht, wäre er sofort eingeschritten, hätte mehrere von Reuetränen durchfeuchtete Entschuldigungsbriefe an Eltern und Lehrer geschrieben, hätte sich einen guten Anwalt genommen und sich unverzüglich an die Konstruktion einer angemessenen Chitinhülle für die armen Wesen gemacht.
Es ist ja nicht nur der Geruch eines Jungenumkleideraums oder eines ungelüfteten Klassenraums einer Achten.
Auch ein zu etwa drei Vierteln mit zum Fetten neigenden Haaren verhangenes, mit Hauterhebungen großzügig versehenes Gesicht zwischen semmelgroßen Kopfhörern wäre mit etwas Kurzsichtigkeit noch als kleinerer Programmierfehler durchgegangen. Dass die verträumten Träger dieser Zwischenstadiums-Antlitze sich die Zeit ihres Zellchaos mit der Konstruktion von penisartigen Gebilden aus aller Art von Materialien vertreiben, ist mehr als verständlich.
Diesen armen Wesen, die bisher mit aller Kraft ihrer piepsigen Stimmen versucht haben, sich Gehör zu verschaffen, plötzlich riesige, tief und vor allem laut tönende Röhren zu verpassen, zeugt von grober akustischer Fahrlässigkeit.
Darüber, wie die dem Zellchaos verfallenen neuen Körper zu bedienen sind, lässt der Schöpfer die Betroffenen völlig im Unklaren, die nun, auf sich selbst gestellt, Experimente aller Art damit veranstalten, um ihre verschiedenen Funktionen zu erproben.
Ebenso allein gelassen sind die vom Zellchaos Betroffenen mit der Neuordnung ihres Intellekts, den sie, immer wieder blindlings ins graue Wabernde greifend, selbstständig neu sortieren müssen.
Und all das, was die Raupe oder der Schmetterling oder wie auch immer man ihn/sie nennen will, wohlgeschützt im Chitin machen darf, müssen die armen Menschen unverpuppt in aller Öffentlichkeit tun.
Deshalb rufe ich hiermit den Schöpfer zur Rückkehr auf und stelle, als Ex-Pubertierende, mitfühlender Mensch und gebeutelte Lehrerin, die dringende Forderung:
Chitin für alle!
Oktober 2013