Erschrecken und Empören

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Kennt ihr das? Du entdeckst irgendetwas Übles, bist darüber total schockiert und dann sagt jemand so etwas wie: Ja, das hat mich am Anfang auch genervt.

Und du stellst fest, dass das schon ganz lange so ist und sich alle daran gewöhnt haben, bevor du es überhaupt bemerkt hast.

Ein Beispiel: Ich entdecke diese kleinen tastenförmigen Schrammen auf dem Bildschirm meines Laptops und rufe aus: Mein Laptop ist eine Fehlkonstruktion! Der Abstand zwischen den Tasten und dem heruntergeklappten Screen ist zu klein! Das muss man den Konstrukteuren sagen!
Da sagt mein Sohn: Ja, die eingebaute Selbstzerstörungsfunktion bei diesen Laptops ist schon bisschen blöd.

Ein anderes Beispiel, aus meiner Schulzeit, als ich verzweifelte an der Unmöglichkeit, Theodor Storms „Der Schimmelreiter“ irgend etwas abzugewinnen. Wie ist so etwas bodenlos Ödes in die Pflichtlektüre geraten?! Die Lehrplanmacher müssen das mal selber lesen!, empörte ich mich. Da sagte mein Vater: Ach, der Schimmelreiter. Der hat schon Generationen von Schülern zu Tode gelangweilt.

In der letzten Zeit ist wieder etwas aufgekommen, das alle normal zu finden scheinen. Ich will eigentlich nur auf der App gucken, wie das Wetter wird. Da poppt ein glatzköpfiger Typ hoch und fordert mich auf, ihn zu wählen. Und zwar mit der Zweitstimme. Der Grund dafür ist: um den Mittelstand zu fördern, die Bauern zu achten und ein Bier zu trinken.

Ich schreie vor Schreck und Entrüstung auf, und meine Freundin sagt, jaja, die Algorithmen. Die schicken dir gezielte Werbung. Wenigstens poppt bei dir nicht der Typ mit der Locke hoch, der Hitler gut findet und ansonsten dagegen ist.

Über den erschrecke ich tatsächlich immer wieder neu. Bei jedem Wahlplakat. Es wird meistens irgendwas statt irgendwas gefordert. Das, was man sich wegwünscht, ist etwas Fortschrittliches. Das, was man will, ist etwas so Enges, Kleines, Beschränktes, dass mir angst wird. Was man sich herbeiwünscht, ist ein von 85 Millionen Untertanen bewohntes ummauertes Dorf, das jeglichen geistigen Austausch zur Außenwelt verweigert.

Mir scheint, die Macher dieser Parolen wollen ausprobieren, ob noch jemand erschrickt.
Die meisten Leute gucken sich die Parolen an, sagen, tja, das muss die Demokratie aushalten, und gehen weiter.
Es gibt ein paar, die solche Wahlparolen abmachen oder bemalen. Das ist, laut unserem demokratisch erstellten Gesetz, eine Straftat. Aber wer die begeht, erschreckt mich nicht, er oder sie macht mir Hoffnung.

Auch beim Lesen der Umfrageresultate erschrecke ich, will aber nicht glauben, dass sie stimmen. Vielleicht sind die Leute, die den völkischen Beschränktheitskönig krönen wollen, gar nicht echt. Vielleicht sind diese dreißig Prozent Thüringer alle Avatare russischer Hacker.
Hör auf mit der Augenwischerei, sagt meine Freundin, natürlich sind die echt. Diese Leute sind seit der Wende klein gemacht worden, und teilweise vorher auch schon, die haben sich immer geduckt, und jetzt wollen sie mal selber jemanden klein machen. Am besten jemanden, der sich erst einmal nicht gut wehren kann. Geflüchtete zum Beispiel. Oder jemanden, der sie verunsichert, weil er oder sie andere Ideen hat oder anders ist als das austauschfeindliche deutsche Mauerdorf.

Ich habe Angst, dass das wahr sein könnte.
Aber.
So wie meine Angst von innerhalb Deutschlands kommt, so kommt die Hoffnung von außerhalb. Seltsamerweise aus dem übelsten Ort eines der beschränktesten Länder, die es momentan auf der Erde gibt: einem Gefängnis in Russland. Dort sitzt die geistige Elite dieses Landes, dort und – bei uns! Deutschland ist ein Ort, an dem sich Emigranten treffen, von hier aus organisieren sie den Widerstand.
Das macht schon einmal Hoffnung.

Ich habe mit einem dieser Menschen gesprochen, Oleg Orlow, der vor kurzem freigetauscht wurde, obwohl er sich geweigert hat, ein Gnadengesuch an den großen russischen Beschränktheitskönig zu schreiben.
Ich habe ihm u.a. die Frage gestellt, die mich gerade sehr bewegt: Ist Putin ein Diktator, der einmal wieder verschwinden wird, um für Besseres Platz zu machen, oder ist er vielmehr eine russische Gesetzmäßigkeit, eine logische Folge der Geschichte – so wie es viele meinen?
Nun, es gibt diese Sichtweise, sagt er. Ich hoffe aber, dass das Rad der Geschichte nach Putin etwas Neues herandrehen wird.

Was mir von unserem kurzen Gespräch in Erinnerung geblieben ist, ist die Art, wie er sprach. Er bezeichnete die Meinung, die ich vorgestellt hatte und mit der er nicht übereinstimmte, als Totschka Srenija, das bedeutet wörtlich: Punkt der Betrachtung. Sichtweise also.
Das nötigte mir Respekt ab. Ich glaube, da im Gefängnis, wo er einen Teil seines Lebens verbracht hat, war nicht viel von Sichtweisen die Rede. In Putins Welt und in der seiner Schergen gibt es nur Richtig und Falsch; falsch ist alles, was nicht ins Bild passt.
Aber Herr Orlow hat sich diese kultivierte, eigene, differenzierte Art zu sprechen und zu denken behalten. An diesem furchtbaren Ort, an dem er war. Und in seinem Land, in dem es vielfach mehr dieser Beschränktheitswähler gibt als bei uns.

Oleg Orlow ist vor zweieinhalb Jahren über den barbarischen Überfall seines Landes auf den Nachbarn erschrocken. Obwohl er sehr gut wusste, wozu Russland fähig war, und obwohl andere die „Spezialoperation“ ganz okay fanden oder so taten. Er hat seine Empörung gezeigt, trotz der scheinbaren oder echten Gleichgültigkeit und Beschränktheit der Mehrheit. Dafür ist er ins Gefängnis gegangen. Er hat sich etwas bewahrt, durch den Barbarismus hindurch, der in seinem Land zu herrschen scheint.
Er verkörpert irgendwie – Hoffnung.

Und deshalb ist Erschrecken und sich Empören eine wichtige Tätigkeit. Auch, wenn sich andere schon längst an das Erschreckende gewöhnt haben.
Ach ja, und damit es bei uns nicht auch soweit kommt, ist noch etwas anderes gerade sehr wichtig. Wählen gehen. Und zwar nicht den großen Beschränker.

Und auch nicht jemanden, die sich mit dem großen russischen Beschränker angefreundet hat!
In einem Interview sagte Oleg Orlow: „Die Beschwichtigung eines Angreifers führt nur zu einer Verstärkung der Aggressionen. Manchmal frage ich mich, ob das deutsche Publikum das nicht versteht.“

Was das deutsche Publikum versteht, daran können wir arbeiten. Wir haben viel Mist in unseren Köpfen auszusortieren, mit den Wahlparolen angefangen. Mit Erschrecken und Empörung geht es besser.

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Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Ines Wagner

    Danke Robin, sagt eine Freundin.