Dieser Text ist strenggenommen kein Klappstunden-Beitrag. Er ist eine fiktive Kurzgeschichte und schon recht alt. Wegen seiner Thematik habe ich ihn trotzdem mit in diese Kategorie aufgenommen.
Schulen, darüber sind wir uns einig, fördern unsere Kinder längst nicht so, wie es nötig wäre. Dies liegt vor allem an den in vergangenen Jahrtausenden entstandenen, immer wieder halbherzig anreformierten Methoden ewiggestriger Lehrer, die für Kreativität und Individualität der ihnen Anvertrauten kaum Raum haben.
Kürzlich hörte ich eine Radiosendung, in der ein Schriftsteller interviewt wurde. Um miteinander warm zu werden, plauderten der Moderator und der Schriftsteller erst einmal über Belangloses, über das man sich sowieso einig ist. Wäre die Sendung im angelsächsischen Raum aufgenommen worden, hätte man diese Einigkeit durch eine Plauderei über das Wetter hergestellt. Hier aber sprach man kurz über Deutschlehrer und deren Versuche, ihren Schülern die Literatur zu vermiesen. Dann sagte der Moderator: „Ja, der Deutschunterricht… Da haben wir alle gelitten… Nun, erzählen Sie doch, wie Sie es trotzdem geschafft haben…“, und hatte einen ganz ungezwungenen Übergang zum Thema gefunden.
Das traf mich. Meine armen Schüler, dachte ich. Das mache ich jetzt besser. Schluss mit dem Frontalunterricht, in dem die Schüler immer nur Vorgekautes nachzukauen haben und in langweiliger und vorgestanzter Weise die Gedanken der Lehrplanmacher nachvollziehen oder wenigstens auswendig lernen müssen!
Schluss damit, literarische Mittel auswendig lernen zu lassen und an vorverlesenen Beispielen emotionslos zu erläutern! Schluss mit dem Kopfschmerz erzeugenden, zum Dauerdösen aufrufenden Lehrerzentrismus!
Schluss mit dem ständigen Nachvornegucken in ein und dieselbe Richtung.
Frontal und lehrerzentriert hatte ich gerade das Thema „Drama“ mit meiner Klasse behandelt. Jetzt sollte es anders weitergehen. Die Schüler sollten kleine Dramen schreiben und aufführen. Die besten würde ich auf Video aufnehmen. Dazu gewann ich unsere Kunstlehrerin, Frau Rüblein, die bereitwillig mehrere ihrer Stunden opferte. Sie ist noch sehr jung, hat keine Familie und hatte die Radiosendung auch gehört.
Am Montag sollte es losgehen. Am Sonntagabend rief mich Frau Rüblein an und sagte, leider wäre die Video-Kamera der Schule nicht auffindbar. Sie würde aber sowieso schon nicht mehr richtig funktionieren. Ich legte noch eine langweilige Wiederholungsstunde ein, verschob das Ganze auf die nächste Deutschstunde und kaufte mir eine Kamera. Die kann man ja immer mal verwenden, tröstete ich mich beim Bezahlen.
Am Dienstag teilte ich die dreißig Kinder der Klasse in mehrere Gruppen ein und gab jeder ein Thema, das aus dem Leben der Kinder gegriffen war und das Zeug zur Dramatik hatte, mit der Aufgabe, das Thema in wenigen Szenen dramatisch darzustellen. Zum Beweis der Ernsthaftigkeit meines Vorhabens zeigte ich ihnen meine Kamera. Sie gingen mit Feuereifer ans Werk.
Manche Schüler waren mit der Zusammensetzung ihrer Gruppe nicht einverstanden, da unüberbrückbare Antagonismen der Persönlichkeiten schöpferisches Tun behinderten, aber schon nach weniger als dreißig Minuten hatten wir im gemeinsamen Gespräch und Probieren neue Gruppen gefunden. Nur Janine war nicht mit ihrer Gruppe einverstanden; da sie jedoch in allen anderen Gruppen bereits gewesen war, fehlte mir weiteres Kompromissmaterial, und ich ordnete diktatorisch ihren Verbleib in der letzten Gruppe an.
Ich bin möglicherweise aus dem Alter heraus, in dem man in Diskos geht, aber die Lautstärke, die nach drei Minuten kreativen Tätigseins herrschte, erinnerte mich an diese geselligen Zusammenkünfte tanzfreudiger Jugend. Versuche, die Lautstärke zu dämpfen, führten jedoch jedes Mal auch zu einer Dämpfung des Einfallsreichtums.
Das wollte ich auf keinen Fall. Deshalb machte ich mich ins Schulhaus auf, um einen weiteren leeren Raum zu finden, in dem zwei der probenden Gruppen Platz und Stille finden konnten. Den fand ich nicht, dafür aber beim Zurückkommen eine friedhofsgleiche Stille in der Klasse und sechs zu Standbildern erstarrte Szenen. Als ich zum Lob anhob, gewahrte ich neben einer der bewegungslosen Schülertrauben meinen Kollegen Fricke vom Bereich Mathematik/Physik, der mit steinerner Miene dastand, mir einen mich gleichfalls an einen Friedhof gemahnenden Blick zuwarf und dann wortlos die Klasse verließ. Eine Erklärung stammelnd, folgte ich ihm ein Stück bis zum Nebenraum, aus dessen geöffneter Tür ein Höllenlärm drang, der bei seinem Eintreten schlagartig abbrach.
„Mach dir nichts draus“, raunte mir Frau Rüblein zu, die gerade, mit einem Haufen unbeschreiblicher und sehr farbenfroher Objekte beladen, durch den Korridor hastete, „das passiert mir jeden Mittwoch, wenn ich Gruppenskulpturen mache. Ich habe übrigens die Kamera gefunden, aber der Akku ist…“ Was sie sonst noch sagte, ging in einem explosionsartigen Knall unter, der aus meiner Klasse dröhnte. Bevor sich die Tür von Herrn Frickes Klasse wieder öffnen konnte, raste ich in meine Klasse.
„Keine Angst, Herr Meinhold“, beruhigte mich Jonathan aus Gruppe 3, „das war nur die Entladung der dramatischen Spannung.“
Das Klingeln setzte der Dramatik ein Ende.
Für den Unterricht am nächsten Tag, idealerweise eine Doppelstunde, fand ich glücklicherweise einen zweiten Raum, drei Stockwerke unter meiner Klasse. Gruppe 1, 2 und 6 schickte ich dorthin, die anderen drei behielt ich im Klassenraum. Ich pendelte zwischen beiden Räumen und konnte so auf mein abendliches Joggingprogramm verzichten. Immer wenn ich den oberen Raum verließ, bat ich Gruppe 3, den dramatischen Höhepunkt nicht zu proben.
Als ich zum dritten Mal von unten hoch schnaufte, fand ich den Klassenraum leer und alle Jungen im Korridor. Sie erweckten sie den Eindruck, als wollten sie jemanden mit großem Enthusiasmus von etwas überzeugen, aber wen und wovon, konnte ich auf Grund ihrer Stimmgewalt nicht herausfinden. Außerdem fehlten alle Mädchen.
Ringsherum öffneten sich Türen der Physik- und Biologieräume, und es erschienen Teile des Kollegiums, mit denen ich bisher friedvoll ausgekommen war. Kollege Fricke war noch nicht dabei. Wahrscheinlich hatte er eine Freistunde. Schnelles Handeln war gefragt.
Ich erinnerte mich an den Stimmbildungsunterricht, den ich im Studium genossen hatte, stellte mir vor, ich wäre eine tönende Röhre, und erzeugte einen Ton, den ich in Zeiten meines Frontalunterrichts noch nie gehört, geschweige denn produziert hatte und auch hoffte, nie wieder zu brauchen. In die darauf entstandene Stille fragte ich angstvoll: „Wo sind die Mädchen?“
Statt einer Antwort öffnete sich die Tür zur Mädchentoilette und gab einen Blick auf die Vermissten frei. Sie scharten sich um eine der Türen, hinter der ich, trotz meiner Erleichterung über die Anwesenheit der Mädchen nichts Gutes ahnend, Janine vermutete.
Es stellte sich heraus, dass die Zeit meiner pendelnden Abwesenheit für folgende Vorgänge genutzt wurde.
Janine war ungehalten wegen der Aufgabe, mit anderen zusammen etwas tun zu müssen, zu dem sie schon allein keine Lust hatte. Daraufhin von den anderen nicht mit Lob überschüttet, verlegte sie sich darauf, alle Missetaten ihrer Mitschüler in einer Art persönlichem Notenbuch festzuhalten. Dieses wurde ihr, da ihr der Schutz des Lehrers fehlte, gnadenlos entrissen, worauf sie weinend beschloss, den Rest der Stunde in der Toilette zu verbringen. Von einem erwachendem Gewissen gepeinigt, versuchten nun alle, sie von diesem Vorhaben abzubringen.
Mir fielen nun mehrere Aufgaben zu. Ich musste klären, wer an dieser Stockung des kreativen Unterrichts Schuld hatte, und den oder die Schuldigen seiner Strafe zuführen, die, wie ich an den erwartungsvollen Blicken der Kinder sah, heiß erwartet wurde. Außerdem musste ich Gruppen 1, 2 und 6 drei Stockwerke weiter unten beaufsichtigen. Der Fortgang des Unterrichts in Gruppen 3, 4 und 5 sollte ebenfalls so rasch wie möglich wieder in Gang kommen. Schließlich durfte Janine, die sich weigerte, die Toilette zu verlassen, auch nicht ohne Aufsicht bleiben.
Als erstes jedoch sollte ich meine naturwissenschaftlichen Kollegen und ihre Klassen dazu ermutigen, ihren Unterricht fortzuführen.
Ich nickte also den grimmig in das Entschuldigungsgeschrei blickenden Lehrern aufmunternd zu, rief die Mädchen (von denen einige begonnen hatten, sich neu zu frisieren) aus der Toilette, trieb alle wieder in den Klassenraum und beauftragte eins der sich sträubenden Mädchen, Janine zum Wiederkommen zu bewegen. Drinnen führte ich eine kurze Befragung durch, in der einstimmig Janines Schuld beteuert wurde, und schickte alle wieder in ihre Gruppen.
Nachdem ich Jonathan unter Androhung von Höchststrafen (was immer das auch sein mag) verboten hatte, den dramatischen Höhepunkt zu proben, eilte ich nach unten zu Gruppe 1, 2 und 6. Diese waren, einer mir unverständlichen, aber allgemein gültigen Gesetzmäßigkeit folgend, über die Ereignisse von oben bereits detailgetreu informiert und hatten alles gründlich durchdiskutiert sowie den Klassenraum mit Requisiten übersät. Den Requisiten nach zu urteilen, bestand die Handlung beider Dramen vor allem aus dem Verzehr von einzeln verpackten Schokoladenteilen und Keksen.
Ich ermutigte alle drei Gruppen zu verstärktem Üben und eilte nach oben, eitel meine schwellende Schenkelmuskulatur bewundernd.
Oben war alles beim Alten. Gruppe 5 probte, Gruppe 3 freute sich über meine Rückkehr, die sie zum Proben des dramatischen Höhepunktes ermächtigte, Gruppe 4 konnte nicht proben, da die Darstellerin der untreuen Liebhaberin fehlte. Die war noch auf dem Klo.
Darf man als Lehrer in ein Mädchenklo eindringen? Können sich Mädchen da drin was antun? Was machen Mädchen überhaupt auf Klos?? Nachdem ich insgesamt fünf von ihnen nacheinander hingeschickt hatte und Janine dort noch immer blieb, brüllte ich Drohungen durch die Toilettentüren.
Von weit drinnen kam nur: „Ich komm nicht raus. Mit denen bin ich fertig.“
„Aber mit der Schule nicht! Und sie haben sich bei dir entschuldigt!! Das muss man besprechen! Aber nicht auf dem Klo!!! Man kann nicht den ganzen Schultag auf dem Klo sitzen!!! Das ist nicht gesund! Und außerdem voll doof!!!“, röhrte ich. Zwei meiner Kollegen steckten den Kopf aus dem Physik- bzw. Biologieraum, zwei schickten nur noch einen Schüler an die Tür. Alle vier schauten nur kurz heraus, nickten und verschwanden wieder.
Ich raste wieder in den Klassenraum, wo die durch Abwesenheit der Hauptdarstellerin zum Müßiggang verurteilte Gruppe 4 damit begonnen hatte, die andere Gruppe mit unterschiedlich geeigneten Kommentaren anzuspornen.
Um die Probe wieder zu ermöglichen, übernahm ich die Rolle der Treulosen, die zwei in der Disko angebaggerten Jungs je ein halbes Herz schenkt und dann, von den beiden enttarnt, unritterlich geohrfeigt und mit frauenfeindlich anmutenden Namen versehen wird. Zwischendurch rannte ich mehrmals in den unteren Raum, um eine Minimierung der Requisiten anzuregen, sowie vor das Mädchenklo, um dort meiner Aufsichtspflicht wenigstens ansatzweise nachzukommen. So verging die Doppelstunde wie im Fluge.
Auch die fünf weiteren Stunden, die mit Proben, Revisionen, Aufnahmen vergingen und die wenigen Nachmittage und Abende, die Frau Rüblein und ich mit jeweils einigen Schülern für weitere Filmaufnahmen und beim Schnitt verbrachten, sind uns in guter Erinnerung geblieben.
Die paar Beschwerden der Eltern und Verweise wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht, Verschmutzung der Räume und Zerstörung der Toiletteninstallation fallen da weniger ins Gewicht. Und auch die Kollegen der naturwissenschaftlichen Fächer werden sicherlich irgendwann wieder mit mir sprechen.
Juni 2010