Was soll das eigentlich mit dem November? Was will der Schöpfer uns damit sagen? Wollte sie nur einmal den schon über ein paar kühle, regnerische Tage Meckernden zeigen, wie es auch sein kann, und damit Zufriedenheit mit allen anderen Monaten erzeugen?
Was hält uns in diesen Wochen der verfrorenen, vernieselten Gräulichkeit mit dem goldenen Faden des Schönen verbunden? Womit können wir aufkommende Suizidgedanken vertreiben?
Da sind zum ersten die pädagogischen Konferenzen, die uns die furchtbare Einsamkeit des Mittnovembers vertreiben helfen.
Auch Geselligkeiten wie der Elternsprechtag mit seinen viertelstündlich wechselnden Angeboten gehören zum klug ertüftelten Anti-Depressionsprogramm der Schule.
Um zu Hause am leeren Schreibtisch nicht dem Trübsinn nachzugeben, liegen anheimelnde Berge von Kursarbeiten bereit, deren Entzifferung Geist und Sinne zu Höchstleistungen herausfordern.
Und wer dazwischen zum unkonstruktiven Grübeln zu neigen wagt, dem empfehle ich ein Nachdenken über Vergangenes, wie es der Charakter des November nahelegt. Wem Totensonntag, Buße und Gebet noch nicht genug sind, der kann auch noch darüber nachdenken, was er aus sonstigem Vergangenen gelernt hat.
Ich habe das getan, und mein Geist hakte sich fest an der Weiterbildungsveranstaltung im Oktober. Dabei habe ich folgendes gelernt.
Ich möchte auch einmal Lehrerin in einer Schweizer Bergschule sein, in der selbstbewusste Kinder, ungeordnet auf Bällen hockend oder im teppichgedeckten Klassenraum herum liegend, frei von kindungerechter Fremdbestimmung ihre Lerninhalte freudvoll selbst festlegen und ihnen phantasievoll nachgehen. Und dann höchst redegewandt in unverständlichem Dialekt die erstaunlichen Ergebnisse ihrer rätselhaften Tätigkeiten präsentieren.
Ich bin aber nicht an einer Schweizer Bergschule.
Ich muss mich täglich in Klassen behaupten, in denen Schüler versuchen, sich durch verschiedene Mittel dem von mir sorgfältig aufbereiteten Unterrichtsinhalt zu entziehen. Die Mittel sind: Schießen auf Mitschüler mit kleinen, eingespeichelten Gegenständen, Einstechen auf weiche und mit Flüssigkeit gefüllte Objekte, Erstellen von Zeichnungen gewalttätigen, sexuellen oder perversen Inhalts, Werfen aller Arten von Dingen in alle Arten von Richtungen u.v.a.m.
Und es sind immer Jungen, die das tun.
WARUM IMMER DIE JUNGEN?
Obwohl der redegewohnte und –gewandte Weiterbildner in hochinteressanter Weise provokativ die Behauptung aufwarf, dass es nur logisch ist, dass Jungen die Verlierer unseres Bildungssystems sind, weiß ich noch immer nicht, warum. Konsultiere ich meine voll Begeisterung notierten Mitschriften, finde ich darin die Erklärung: Wir behandeln alle Schüler, als wären sie Mädchen. Wir stellen nicht in Rechnung, dass sich Jungen durch Großtaten hervortun wollen. Wir geben ihnen nicht die Möglichkeit dazu. Statt dessen verlangen wir Anpassung von ihnen, eine evolutionsbedingt dem weiblichen Geschlecht, nicht aber dem männlichen, zugehörige Eigenschaft.
Voller Novemberenergie wühle ich weiter in meinen Aufzeichnungen. Konsultiere meinen reichen Erfahrungsschatz. Finde nichts.
Wie behandelt man Jungen???? Wie gibt man ihnen im Rahmen einer Unterrichtsstunde die Möglichkeiten zu herausragenden Heldentaten? Wie erlöst man sie von der unzumutbaren jungenehrenrührigen Erwartung, sich in weibischer Weise sozial zu verhalten?
Wie machen denn das die Schweizer Projektschulpädagogen? Was machen die mit den Jungen, den Verlierern unseres Schulsystems?
Das wüsste ich gern. Außerdem wüsste ich gern, ob ich als berufsmäßige Vertreterin und Verfechterin dieses Schulsystems, dessen Verlierer die Jungen sind, überhaupt eine Chance habe, sie irgendwo zu erreichen, oder ob das gar nicht geht.
Dann könnte ich mich nämlich ganz entspannt in den Höhepunkt des Novembers, unseren Elternsprechtag, begeben. Elternteile, die sich darüber empören, dass die Lehrerin auf die Besonderheiten ihres hochbegabten Kindes nicht eingeht, kann ich gelassen beruhigen mit den Worten: Sie wollen doch nicht, dass sich Ihr Sohn weibisch verhält? Dann ist das alles in Ordnung.
Oder Sie ziehen in die Schweiz.