Vor sehr kurzer Zeit ereignete sich folgende kleine Begebenheit an der Schwelle zu unserem Lehrerzimmer, die mir von einem nimmermüde um unsere geistige Gesundheit bemühten Kollegen zugetragen wurde.
Eine ansonsten der Idee „Lehrer“ wohlwollend gegenüberstehende Schülerin steckte, von einem der beliebten pausenfüllenden Bewerbchen getrieben, den Kopf ins Lehrerzimmer, vergaß ihr Bewerbchen sofort und ließ folgende Worte vernehmen: „Wie sieht denn das hier aus?!! Das kann doch nicht wahr sein!“ Was sie sonst noch sagte, möchte ich hier nicht wiedergeben, da sie die Berechtigung unseres Kollegiums, unseren Erziehungsauftrag wahrzunehmen, in ungereifter und nicht durchdachter Art hinterfragte.
Lehrertypisch immer zum Empfang von Kritik bereit und mich um eine neue Perspektive aus den Augen der Schülerin bemühend, blickte ich einmal um mich.
Meinen neu erwachten Augen bot sich folgendes.
Ein grober, auf unscharf gestellter Schwenkblick könnte einem Uneingeweihten den Eindruck vermitteln, das Kollegium bereite sich auf eine großangelegte, jedoch auf nur wenige Minuten beschränkte Sperrmüllaktion vor, in der es darauf ankomme, dass jeder Kollege in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Gegenstände zum Wegwerfen bereitstellen könne.
Aus dieser Ursuppe der Elemente ragt wie eine Insel der reinen Schöpfungsordnung der Bereich Küchenzeile. Angeführt und ausgefochten von einem nicht genannt sein wollenden, aufopferungsvoll um Professionalität bemühten Kollegen, spielt sich hier täglich von neuem still der Kampf gegen das Naturgesetz der ständigen Vermischung der Teilchen ab.
Lasse ich nun das Auge auf jedem der Tische ruhen und gebe ich ihm genügend Zeit zur Anpassung, werden schon nach kurzer Zeit personen- und fachtypische Details erkennbar, jedoch auch Gefahrenquellen durch drohenden Umsturz von turmgleichen Gebäuden aus Quellenmaterial schälen sich heraus.
Besonderen Einfallsreichtum beweist der Mittelbereich, von dem hier einmal ein Achtel beschrieben werden soll.
Was wir für unsere Klassen mit täglich neuer Inbrunst wünschen, ist hier mühelos Wirklichkeit geworden: das friedliche Miteinander schier unvereinbarer Gegensätze. Zwischen einer orangefarbenen Duftkerze und einem Packen Werbungsplakate für Englisch-Nachhilfe ragt stolz eine leere Wasserflasche, gekrönt von einer gestreiften Wollmütze, zu deren Füßen sich ein Fahrradhelm, eine Schere und ein Aufruf zu einer Aktion gegen Kulturabbau tummeln. Zwei liebevoll gestaltete Weihnachtslaternen ringeln sich schützend um ein Glas Honig bzw. einen im Herbst des Lebens befindlichen Weihnachtsstrauß.
Die anderen sieben Achtel sind in analoger Weise in großer, von Toleranz geprägter Buntheit gestaltet.
Der aufmerksame und wohlwollende Betrachter entdeckt in diesem Lehrerzimmer mehrere äußerst liebenswerte Eigenschaften unseres Kollegiums:
1. Eine große Aufgeschlossenheit im Umgang mit vielfältigsten Unterrichtsmaterialien jeglicher Größe und Menge auch unter Bedingungen, die selbst Bauarbeiter nur unter mindestens einer Verdopplung ihres Lohnes in Erwägung ziehen würden.
2. Eine nimmermüde Freude am Gestalten und Einbringen verschiedenster saisonaler Schmuckelemente an den Arbeitsplatz. Schon nach wenigen Minuten schälten sich für meinen suchenden Blick aus der Fülle der lehrerzimmereigenen Gegenstände weihnachtliche Dekorationskörper heraus. Ein Lichterbaum thront auf einem meterhohen Sockel stetig sich verändernder Unterrichtsmaterialien; Kerzen, Zweige, Sterne, Laternen und fröhliche, an Tagen der besonderen Kreativität gefertigte tönerne Objekte durchwirken dekorativ die sich stetig verändernde Schicht verschiedenster Substanzen, die die Oberfläche des Zentralbereichs unseres Lehrerzimmers überzieht und ihm seinen unnachahmlichen Charakter verleiht.
3. Eine titanengleiche Unverwüstlichkeit und schöpferische Kraft. Wer fähig ist, in Pausen, die durch Bezwingen metertiefer Schlammschichten zwischen den Schulgebäuden auf Zehntelsekunden reduziert sind, aus dem oben beschriebenen, eigentlich aber unbeschreiblichen Kunstobjekt Lehrerzimmer Kraft und Material für die Arbeit mit bis zum Äußersten pubertierenden Begabten zu schöpfen, muss die Robustheit sibirischer Dauerfrostbulldozer mit der kreativen Gabe eines Picasso oder Beethoven vereinen.
4. Humor: die Fähigkeit, einen Schritt beiseite zu treten, die Perspektive zu wechseln und dabei heiter zu bleiben. Denn diese Fähigkeit ist die Voraussetzung dafür, in diesem einmaligen Raum überhaupt etwas zu finden.
Staunend schalte ich von der neuen Sichtperspektive wieder in die mir gewohnte und beschließe sofort, meinen Kollegen meine neuen Erkenntnisse mitzuteilen, auf dass sie froh und gestärkt, sich ihrer ans magische grenzenden Kräfte in neuer Weise bewusst, ins neue Jahr bewegen.