To change or not to change?

Immer wenn Ferien sind, mache ich eine Art Metamorphose durch: vom Lehrer zum Menschen und dann wieder zurück zum Lehrer.

Mein zur Versprachlichung ungeschönter Wahrheit neigender Familien- und Freundeskreis behauptet, das Lehrersein würde man mir immer anmerken. Aber das stimmt nicht. Sie merken einfach die Metamorphose nicht.

Als erstes drehe ich den Korrigierhahn zu. Im besten Fall schaffe ich noch, ein Stück vom Korrigierberg abzutragen. Dann werfe ich alles einfach auf den Das-mach-ich-später-Haufen.
Schwerer ist schon, das Ich-muss-noch-die-Stunden-für-morgen-vorbereiten-Gehetze aus dem Kopf zu bekommen. Das dauert etwas länger.

Dann kommen die Ich-müsste-unbedingt-mal-mit-den-Eltern-reden-Gefühle. Die schiebe ich irgendwo ins hintere Gebiet meines Bewusstseins, von wo sie mich am ersten Schultag wieder hinterhältig anspringen werden.

Nun kommt das Schwerste. Das, was den Lehrer zum Lehrer macht. Die Essenz eines vom und zum Lehrerberuf Beseelten und Verdammten. Wer es ablegt, ist kein richtiger Lehrer; wer es außerhalb der Schule noch an den Tag legt, hat mit Störungen in den Beziehungen zu rechnen. Es ist das Sendungsbewusstsein, sozusagen der Drive des Lehrerseins.
Es ist unser erklärtes Ziel, die Schüler*innen zu ändern: von Unwissenden zu Wissenden, von Ungeschliffenen zu Geschliffenen, von Rohlingen zu Diamanten. Oder wenigstens zu Halbedelsteinen.
Damit hat uns die Gesellschaft betraut, und ich habe das Gefühl, sie ist saufroh, dass sie diese Aufgabe los ist. Dafür guckt sie auch von oben auf uns runter oder belächelt unser verzweifeltes Tun.

Wenn ich mir meine Schüler*innen so angucke, finde ich es viel schöner, sie zu beschreiben, als sie zu ändern. Als Mensch kann ich es erfrischend finden, mir all die Seltsamkeiten zu betrachten, mit denen ich im Laufe des Tages konfrontiert werde. Als Lehrer soll ich sie ändern.

Wenn sich also zum Beispiel ein Schüler ständig, aber auch ständig verspätet, soll ich erreichen, dass er pünktlich kommt. Das geht nicht. Es geht wirklich nicht. Ich habe es probiert und festgestellt: Er hat Gründe fürs Zuspätkommen, und meine Strafen beseitigen diese Gründe nicht. Er kommt weiter zu spät, oder er erkrankt.

Oder bei einem Kind läuft in jeder Stunde die Füllerpatrone aus. Oder es hat kein Schreibpapier. Oder es rutscht seitlich vom Stuhl. Oder alles zusammen. Ich kann ihm den Füller überprüfen, der schreibt tadellos. Ich kann ihm einen Schreibblock in meinem Lehrerfach deponieren. Ich kann ein Geländer am Stuhl anbringen. Ändern kann ich es nicht. Der nächste Füller wird auslaufen, das angeschaffte Papier verschwinden, das Geländer abkrachen.

Es gibt auch Furzer. Möglicherweise auch Furzerinnen. Ich gehe durch die Klasse und denke, mein Gott, was ist hier geschehen? Ist ein heimlicher Angriff im Gang? Versucht uns jemand ins Koma zu versetzen? Ist die Kanalisation der Schule leckgeschlagen? Manche drohen in Ohnmacht zu fallen, andere reißen in Panik die Fensterwirbel ab auf der verzweifelten Suche nach Atemluft.
Kann ich das ändern? Kann ich alle in Frage kommenden Schließmuskel der Klasse chirurgisch überprüfen lassen?

Ich weiß nicht, ob ich da einer Täuschung erlegen bin, aber mir scheint, die Zahl der Unabänderlichen nimmt in jeder Klasse zu. Besonders auffallend ist das in den Fünften.
Da gibt es Erzähler. Sie erzählen. Sehr viel und immer. Zu jedem Thema gibt es eine Erzählung, die den Unterricht nicht unbedingt voranbringt, aber auch kein definiertes Ende hat.

Es gibt auch die Sachenholer. Sie haben die Sachen, die für die jeweilige Aufgabe gebraucht werden, nicht da. Die müssen noch geholt werden. Immer. Das Heft, einen Stift, das Buch, einen anderen Stift, weil sie mit grün unterstreichen wollen, den Deckel von der Trinkflasche, das Arbeitsheft, ganz viele Taschentücher, weil die Trinkflasche inzwischen umgefallen ist.

Dann gibt es Drifter. Sie driften während des Unterrichts versonnen durch den Raum. Ich bilde mir ein, zwischen den Füßen einer Drifterin und dem Fußboden in der letzten Stunde ein paar Zentimeter Luft gesehen zu haben, aber vielleicht war das nur eine Einbildung meines vom Furzenden betäubten Gemütes.

Es ist schwer, den Unterricht überhaupt zu beginnen: die Sachenholer holen Sachen von überallher. Die Erzähler*innen stehen in dem schmalen Raum zwischen dir und dem Lehrertisch, in den eigentlich kein Mensch hineinpasst, und erzählen. Die Drifterinnen kommen gelegentlich vorbeigedriftet.
Ich weiß nicht, ob ich all diese jungen Seelen ändern soll. Oder zumindest ihr Verhalten. Oder ob ich es kann. Die Grundschulen sind da wohl schon etwas weiter. Sie lassen dort jeden und jede nach Entwicklungsstand und Verfassung erzählen, holen, auslaufen, furzen oder einfach driften. Die Lernaufgaben, die wir hier mit gymnasialem Eifer zu erledigen trachten, haben bei ihnen vielleicht eher Angebotscharakter.

Vielleicht versuchen sie nicht, die Kinder zu ändern. Das ist weise.
Ich brauche das auch nicht zu tun. In den Ferien. Danach muss ich mich wieder zurückverwandeln. Oder nicht?

Oktober 2015

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