Zwillinge
Nele ist verschwunden. Sagt Manuel, ihr Ex.
Jasmin, Neles Tochter, sieht das gelassener. Natürlich kommt sie wieder, sagt Jasmin, sie ist doch immer wiedergekommen.
Na klar! Hau doch ab, verpiss dich, wie immer, das ist ja deine Strategie! Das waren meine letzten Worte an Nele.
Ich habe von dir leben gelernt, hätte ich sagen sollen, aber das habe ich nicht herausgebracht.
Und jetzt ist Nele weg.
Mein Handy bleibt stumm, Nachrichten an sie gehen ins Leere. Panik klumpt sich in meinem Magen zusammen und wandert Richtung Uterus.
Nele und ich, wir sind so eine Art Zwillinge.
Das ist natürlich Quatsch; Nele ist so blond, wie man noch sein kann, ohne sich lächerlich zu machen, und ich habe blaue Locken. Oder magentafarbene. Meistens aber braun. Je nachdem.
Nele ist eher geradezu, ich nicht. Extro und Intro, würde meine Tochter Jenny sagen, wenn sie mit mir reden würde.
Wieso wir trotzdem eine Art Zwillinge sind?
Als Linien gedacht, liefen unsere Leben lange parallel. Während sie gezogen wurden, schielte meine Linie immer mal zu der von Nele hinüber.
Außerdem haben wir die gleichen Vorlieben.
Einmal waren wir in denselben Mann verknallt. Micha. Katastrophe.
Natürlich bin ich zurückgetreten. Da wollte Nele ihn auch nicht mehr. Wie damals mit dem Playmobilmännchen, das mit dem albernen aufgemalten Bart. Da lag es unbeachtet auf dem Teppich im Kindergarten, nachdem wir uns fast die Haare ausgerissen hatten wegen des Männchens. Also sie mir. Ich habe eher untenrum getreten. Behauptet Nele.
Einen Bart hatte Micha auch. Hat er immer noch. Einen schönen, weichen. Und eine Tuba. Er hat sich dann für mich, sagen wir mal, entschieden. Und sich dann entpuppt. Aber nicht als Schmetterling. Eher als eine Art Käfer. Ohne Flügel. Ein Laufkäfer. Ein gemütlicher, Tuba spielender Laufkäfer.
Lass den laufen, Sina, hat Nele gesagt, der ist nicht gut für dich. Du willst die Welt ändern; Micha findet die Welt ganz in Ordnung. Du hast Träume; er hat seine Tuba. Das geht nicht gut.
Das musste Nele gerade sagen! Sie mit ihrem Manuel. Wenn Micha ein Laufkäfer war, dann war Manuel ein Engerling.
Wie sind wir nur auf diese Männer gekommen? Wir hätten lieber miteinander ein Paar werden sollen. Einmal haben wir uns geküsst, das war in diesem Baumhaus, das wir besetzt hatten, um den Wald zu retten, wir waren beide euphorisiert von der Weltrettung und den Bäumen und den Liedern und der vielen frischen Luft und den Joints. Dann wurde der Wald doch abgeholzt, und wir haben über den Kuss nie gesprochen.
Um ehrlich zu sein, sie sind okaye Menschen, Micha und Manuel.
Manuel hat seinen Job und seine Familie: Mama, Papa, Schwestern, die sie immer unterstützt haben, besonders ihn haben sie unterstützt, aber auch Jasmin, und wahrscheinlich auch Nele, sie hat es bloß nicht gemerkt.
Micha hat seine Musik.
In seinem Orchester hat er sein Auskommen, sein Einkommen, und dann spielt er noch in vielen Bands. Wenn du Kontakte suchst: Lern Tuba! Dann kannst du überall mitspielen. Micha ist glücklich. Glaube ich.
M und M sind mit dem Leben grundsätzlich einverstanden.
Und, gemeinerweise, verpartnert mit Menschen, die am Leben zweifeln, zerren, zaudern. Die das Äußerste herausholen wollen. Oder das Innerste. Nele und ich. Unsere Poetry Slams, unsere Rettungsaktion für die Flüchtlinge, die Straßenpartys, die Demos, das haben M und M wohlwollend belächelt.
Unsere Heulanfälle mussten wir mit uns selbst ausmachen.
Von den Protestaktionen waren M und M nicht amüsiert. Sie können die Verzweiflung nicht verstehen, den Schmerz, den du empfindest, wenn etwas zerstört wird oder leidet, mit dem du verbunden bist: Luft, Wasser, Pflanzen, Tiere.
Nele und ich sind manchmal halb verrückt vor Schmerz. Ketchup auf Bilder zu werfen oder seine Hand irgendwo festzukleben ist eine Verzweiflungstat.
M und M sind glücklich. Erbarmungslos glücklich.
Nele hat es nicht mehr ausgehalten, die Zufriedenheit, die Harmonie des kleinen Kreises. Die Wärme ihres Hauses war für sie eine Sauna.
Sie ist abgehauen.
Herzlos, haben viele gesagt, undankbar, schlechte Mutter. Sie hatte doch alles, was eine braucht: Haus, Garten, einen guten Mann, ein Kind! Sie lässt ein Kind zurück!
Als wäre sie gestorben.
Aber sie lebt. Mehr als manche andere.
Nele ist immer wieder zurückgekommen, hat Jasmin Geschichten erzählt, gesungen, nutzlose Kräuter in den Garten gepflanzt, ein Baumhaus gebaut. Bleiben konnte sie nie.
Ich habe mich nicht getraut abzuhauen. Ich mache meinen Job, versorge Jenny (nicht dass sie sich noch versorgen ließe), habe für beides nicht genug Zeit, leide darunter, höre mir die Tuba an, demonstriere manchmal und schreibe Geschichten darüber, was sich ändern müsste in der Welt. Es wird immer mehr, und ich werde immer unglücklicher.
Neles Kind hat von ihr mehr gelernt als meins von mir. Jasmin ist lebensfroh, irgendwie leuchtend, immer irgendwo beschäftigt, sie hat den Garten zu einem kommunalen Gemüsebeet umgestaltet. Micha ist nicht begeistert, aber er lässt es geschehen.
Momentan macht Jasmin digital detox und hat nur einen Handykanal offen, das ist der zu Nele.
Jenny spricht kaum noch mit mir, und wenn, dann macht sie mir Vorwürfe. Inkonsequenz wirft sie mir vor, und Halbheiten. Sie nölt auch Micha an, aber dem macht es nichts aus. Er schiebt es auf ihre Pubertät und geht zu seiner Tuba.
Vielleicht sind wir ja doch keine Zwillinge, Nele und ich.
Eher zwei Seiten einer Medaille. Aber was soll das für eine Medaille sein? Und was macht die zweite Seite, wenn eine Seite verschwindet?
Dieser Streit.
Wir hatten uns mindestens ein Jahr lang nicht mehr gesehen, wir saßen in meiner Küche, von nebenan tönte die Tuba, aus Jennys Zimmer strömte süßlicher Marihuana-Geruch, der mich immer in einen instabilen Zustand versetzt, obwohl ich das Zeug gar nicht mehr rauche. Ich torkelte hin und her zwischen der Angst um Jenny (sie kifft zu viel!) und den sehnsüchtigen Erinnerungen an unsere Baumbesetzer-Zeiten (so roch es damals im Baumhaus).
Nele und ich redeten von unseren Kindern. Und wie immer, wenn es um die Kinder geht, geht es eigentlich um etwas anderes.
Ich habe ein bisschen über Jenny gejammert, und Nele hat geantwortet: Bullshit. Jenny spiegelt euch nur, dich und Micha. Den Zwiespalt.
Was für eine Anmaßung! Nele muss den täglichen Wahnsinn der Pubertät nicht mitmachen, sie ist die Feiertagsmama! Das Leben ist ein Fest! Lebe deine Träume und lass die anderen die Drecksarbeit machen!
Hau doch ab, verpiss dich, habe ich sie angeschrien.
Hätte ich nur …
Eine Nachricht poppt auf meinem Handy hoch.
Ich werde nie wieder jammern!
Nele. Eine weitere Nachricht folgt. Sie fährt im Mittelmeer auf einem Schiff herum, das Flüchtlinge rettet, und wurde gerade in einem Hafen festgesetzt.
Die Antworten rasen in meinem Kopf und versuchen einander ins Telefon zu stoßen. Nele, du Idiotin, wieso hast du dich nicht, wie kannst du nur, hast du eigentlich kein bisschen …
Nele, von dir habe ich leben gelernt, tippe ich, so schnell ich kann.
Bullshit, kommt es zurück. Und dann: Du fehlst mir.