„Prestuplenie i Nakasanie“, Irina Nikolajewna seufzt leise und atmet das Ausgeseufzte sorgfältig wieder ein, „ist also, trotz seiner brillanten Sprache, trotz der Meisterschaft, mit der die Namen der Assoziativität des Lesers anheim gegeben werden, und trotz des komplizierten Gedankengangs, der ihm zugrunde liegt, kein vollendetes Kunstwerk.“
Thomas Wendel sieht die Professorin durch die Reihen seiner Kommilitonen an. Alles an ihr ist rund, denkt er, die Schultern, das Gesicht, die Augen, die hellblond gefärbten Locken, die unsägliche Hornbrille. Wie sie wohl ausgezogen aussehen mag… Mechanisch schreibt er
Schuld und Sühne – eigentlich kein wahres Kunstwerk
in sein fast quadratisches Heft, das er bei der ebenfalls fast quadratischen und zuverlässig übel gelaunten Verkäuferin am Kiosk neben dem Institutsgebäude gekauft hat. (Als er später, wieder zurück in der DDR, versuchte, die quadratischen Seiten mit Aufzeichnungen auf anderen Blättern in Heftern zusammenzuheften, scheiterte er an der Einmaligkeit des russischen Formats.)
Irina Nikolajewna wirft einen kurzen Blick in den Seminarraum und bringt mit einem Satz ihren Vortrag zu Ende. Die weichen russischen Laute, die vorher fast magisch umschrieben, beschworen, geschwärmt haben, so dass Thomas Schauer über den Rücken liefen (die er später in seinem Tagebuch als „literarische Wollust“ beschrieb), verdichten sich plötzlich zu einer zischenden Salve.
„Wie wir heute wissen, ist Dostojewski befangen geblieben in den begrenzten Gedanken der Literatur der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Ein Ausblick, eine Lösung der antagonistischen Widersprüche, wie sie mit der Weiterentwicklung zum Kommunismus folgerichtig möglich wurde, blieb ihm verwehrt. Er litt unter den Widersprüchen der herrschenden Verhältnisse und verstand sie meisterhaft auszudrücken, vollzog jedoch nicht den zu einem wahrhaft entwickelten Schriftsteller notwendigen Schritt.“
D. fehlt letzter notwendiger Schritt zum entwickelten Schriftsteller
notiert Thomas in sein Heft.
„Warum haben Sie denn nicht widersprochen?“
Das Bild Irina Nikolajewnas, eben noch deutlich vor ihm, beginnt sich zu verändern. Die Rundungen strecken sich, formen Ecken, ordnen sich neu zu dem Körper, dessen Bild ihn nicht mehr freigeben will, seit Maxi zum ersten Mal in seinem Seminar zur Russischen Literatur erschienen ist. Die suchenden Augen, so flehend weiblich unter den fast männlich dichten Augenbrauen, der große, volle Mund, das herausfordernd vorgereckte Kinn über dem so schlanken Hals, der sich unter dem Gewicht des perfekt geformten, kurz geschorenen Kopfes zwischen schmale Schultern senkt, unter denen ein Paar unglaublich lebendiger Brüste…
Mit einer großen Anstrengung hebt Thomas Wendel den Kopf aus den Händen, mit denen dieser seit einer halben Stunde verwachsen zu sein scheint, und reibt sich erst die Augen und dann die Schläfen, um wieder zu sich zu kommen. Er fokussiert den Blick, der glasig und unnütz ins Leere gerichtet war, auf sein Büro.
Der Bildschirm des Computers hat auf Schonung geschaltet; Bilder von Birkenwäldern, von kleinen Holzhäuschen mit blauen Zäunen hinter matschigen Dorfstraßen und von riesigen Denkmälern wandern mit beunruhigender Langsamkeit darüber hinweg.
Er hebt den Blick zu den Bildern an der Wand. Die beiden Kinder auf der Wippe vor ihrem großen Haus lächeln ihn an, als wären er und sie noch immer eine Familie. Der leere Nagel daneben starrt ihn staksend an. Man müsste ihn mal herausziehen, denkt Thomas vage.
Der Assistent, dessen kleiner, aufgeräumter Schreibtisch neben der Tür steht, ist längst verschwunden. Auch im Korridor herrscht Stille; die meisten haben das Universitätsgebäude verlassen.
Thomas steht auf und öffnet das Fenster.
Er hatte Maxi herbestellt; er hatte gehofft, dass sie in sein Büro käme, so wie nach dem letzten Seminar, als es um Lew Tolstoi ging.
Wie ihre leidenschaftlichen Augen an ihm hingen, als er ihr den ewigen Konflikt des alten Gutsbesitzers schilderte, der zu reich war, um nach seinen eigenen maßlosen Maßstäben gut sein zu können, und sich sein Leben lang schuldig fühlte für seine Schwäche, reich zu sein! Er vermutete, dass die Studenten diese Schuldgefühle nicht verstehen würden. Reichtum als Schwäche, was für eine Denkweise! Im Seminar deutete er es nur kurz an und fuhr dann schnell fort mit den Werken Tolstois.
Das hatte Maxi nicht gereicht. Nach dem Seminar kam sie zu ihm und fragte ihn etwas, an das er sich jetzt nicht mehr erinnern kann. Es war ihm, so glaubte er, gut gelungen, seine Benommenheit, die ihre plötzliche Nähe und ihr Duft ausgelöst hatten, hinter Geschäftigkeit zu verbergen, und er bat sie, um die Frage weiter zu erörtern, für später in sein Büro.
Sie kam tatsächlich. Während seiner Erläuterungen über Tolstois Schuldgefühle musterte sie unverhohlen ihn und sein Büro.
„Sie werden es vielleicht schwer verstehen“, sagte Thomas, „Vom heutigen Standpunkt aus…“
„Wieso soll ich das nicht verstehen?“ Sie kippte den unteren Teil ihres Gesichtes weiter nach vorn, was sie noch reizvoller machte.
„Nun, jeder hat doch ein Recht auf Besitz…“
Ihre Blick bohrte sich in seinen. Ihm wurde warm.
„Auf wie viel Besitz?“, schoss sie ihm entgegen. „Auto? Mercedes? Jaguar? Haus? Villa? -“
„Schloss“, ergänzte er unwillkürlich.
Beide lachten. Ihr Blick lockerte sich. Er dachte an sein liebevoll renoviertes Fachwerkhaus, in dem Simone und die Kinder jetzt ohne ihn wohnten. Er würde wieder ein Haus haben, ein großes, vielleicht mit dieser Frau…
Wie ein Hieb hackte ihr Satz in seine Gedanken.
„Reichtum ist Schuld“, verkündete Maxi und unterstrich das mit einem so bestimmenden Hüpfen ihres Busens, dass er keinen Widerspruch wagte.
„Wer mehr hat, als er braucht, nimmt es anderen weg, die es brauchen.“ Die Brüste setzten einen doppelten Schlusspunkt.
Unten lärmt die Stadt. Irgendwo dort läuft sie jetzt herum, oder sie sitzt in einem Cafe mit ihren altklugen Studentinnenfreundinnen, und sie reden über Dostojewski oder feige Ex-DDR-Dozenten.
Und über das letzte Seminar…
Warum nur hat er Irina Nikolajewna erwähnt? Warum musste er das alles ausgraben? Hätte er es doch ruhen lassen! Hätte er doch nur sein altes quadratisches Heft nicht hervor geholt. Oder hätte er Maxis Frage beantworten sollen, statt sie als nicht zum Thema gehörend beiseite zu schieben?
Warum haben Sie denn nicht widersprochen?
Nun ist er bereit, ihr alles zu erklären, doch sie ist nicht gekommen.
Er klappt das Fenster zu und geht zu seinem Schreibtisch zurück. Er muss das nächste Seminar vorbereiten.
Das friedliche Ziehen der Birken von Jasnaja Poljana über seinen Bildschirm nervt ihn maßlos.
Er schlägt auf die Leertaste. Gehorsam springt der Bildschirm zurück zu seinem letzten Dokument:
Russische Literatur – 4. Seminar
Er öffnet ein neues Dokument und schreibt:
Warum haben Sie denn nicht widersprochen?
– weil es nicht üblich war zu widersprechen. Heute gehört Widersprechen zur Standardausrüstung, egal ob man etwas zum Widersprechen hat oder nicht. Was, Sie widersprechen nicht? Was für ein Weichei!
Er löscht die letzten drei Sätze wieder und fügt hinzu:
– weil diesen Unsinn, den sie uns da erzählt haben, sowieso keiner ernst genommen hat
Ihr Bild ist wieder vor ihm, die Augen blicken spöttisch, der lippenstiftrote Mund verzieht sich leicht nach unten. So eine Miene trug sie, als ihre Kommilitonin Katja den Schriftsteller Tolstoi als neurotischen Grafen bezeichnete. Du Inbegriff von Verachtung, hatte er mit einem leichten Schauer gedacht, bitte sieh mich nie so an…
Aaaaaaah!
Er schlägt mit beiden Fäusten auf die Tastatur.
– Mjik, udxjm maqpoy
zeigt der Bildschirm ungerührt und unterstreicht es mit roten Wellenlinien, um ihn auf die fehlerhafte Rechtschreibung aufmerksam zu machen.
Thomas beginnt wütend zu schreiben.
– weil ich dann nicht hier sitzen würde, du selbstgerechtes ignorantes Wessiluder!
(das letzte Wort rot unterkringelt)
Er schlägt wieder auf die Tastatur und erwischt außer den Buchstaben auch die Umschalttaste ins Kyrillische.
жпдвео ябвффежйа.юэ
teilt ihm der Bildschirm gehorsam und rot unterschlängelt den getippten Unsinn mit.
Thomas atmet tief ein, öffnet ein neues Dokument und schreibt:
Преступление1
Er schließt die Augen, und seine Finger schreiben:
Наказание2
Er seufzt und beginnt dann in die Tasten zu hämmern.
Als es draußen zu dämmern beginnt, nimmt er die Maus und klickt auf „Schließen“.