Alte Liebe

  • Beitrags-Kategorie:Kurzprosa
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Alte Liebe

Ralf steht vor Stellas Tür. In Berlin. Im ersten Stock dieses Mietshauses. Alles Mietshäuser hier. Nicht wie zuhause in Köthen. Ralf ist mit irgendeinem Typen und seinem Hund unten durch die Haustür geschlüpft. Dass die hier alle Hunde haben in Berlin! Und jetzt steht er direkt vor der Tür ihrer Wohnung.
Ralf hebt die Hand zum Klingelknopf und lässt sie wieder sinken. Man muss nichts überstürzen. Er schließt die Augen. Nur eine Tür liegt zwischen ihm und Stella. Hinter der Tür ist sie. In ihrer ganzen Pracht. Vielleicht sitzt sie gerade vor dem Computer. Und schaut hinein. Mit ihren Augen. Die sind so grüngrau.

Ralf seufzt und probiert es noch einmal mit dem Anheben der Hand zum Klingelknopf. Es geht noch nicht. Er braucht noch einen Moment Zeit. Er muss noch einmal durchatmen. Es kommt ja nicht alle Tage vor, dass man an einer Tür klingelt. Wer klingelt heute schon noch an Türen? Damals haben sie das ständig gemacht, als noch nicht alle ein Telefon hatten, genau genommen hatte niemand ein Telefon, nur Ärzte, Pfarrer und die Stasi. Man hat einander besucht. Wenn man jemanden sprechen wollte, hat man ihn besucht. Oder sie. Ralf hat viele Freunde besucht. Auch Stella. Ihre Familie wohnte damals in dieser winzigen Neubauwohnung in ihrer kleinen Stadt, und Neubauwohnung bedeutete damals: im Block. Da hatte Stella diesen Hund. Einen Spitz.
Eine Neubauwohnung und ein schwarzer Spitz. Das war die DDR.
Der Spitz war ein seltsames Tier, er ging nur auf Männer los, Frauen ließ er in Ruhe. Er hieß Eberhard. Immer wenn Ralf bei Stella klingelte, kam Eberhard erst einmal zur Tür gerannt, mit einem riesigen Radau kläffte und rumpelte es, dann wurde er weggesperrt, und dann – dann kam Stella zur Tür. Wenn man Glück hatte. Wenn nicht, kam ihre Mutter. Und die hatte immer viel zu erzählen. Sehr viel. Und sie fragte. Nach der Schule, nach seiner Familie, nach allem. Vielleicht war sie bei der Stasi.

Erst der Spitz, dann die Mutter. Es war nicht einfach, zu Stella zu kommen. Aber Ralf hatte es geschafft. Etliche Male. Und sie haben sich draußen getroffen, sind durch den Park gegangen, Hand in Hand. Mit Eberhard. Beim Spazierengehen war alles okay, aber sobald sie in die Nähe von Stellas Block kamen, war es aus. Dann griff Eberhard an. Alle Männer. Auch Ralf. Besonders Ralf. Man musste schnell sein mit Eberhard. Rein in Stellas Zimmer und schnell die Tür zu, das war die Methode. Das mit der eingeklemmten Schnauze war ein Unfall, keine Absicht. Eberhard war hinter ihm her; die spitzen Zähne, Ralf musste sich retten. Und die Klotür von Stellas Familie war eben schneller als Eberhard. Fast.
Nicht dass Eberhard der Grund gewesen wäre für die Trennung. Ralf hat eben fortgemusst. Manchmal muss man das. Und manchmal merkt man erst, was einem gefehlt hat, wenn die erste Ehe kaputtgegangen ist. Und die zweite. Plötzlich weiß man, was wichtig ist im Leben. Es ist ja nicht viel, was ein Mann braucht. Ein Heim, ein Herd, eine Frau, die für dich sorgt. Die dir den Rücken frei hält, auf dich eingeht, statt immer nur sich selbst verwirklichen zu wollen oder an dir herumzumeckern. Die sich selbst ändert, statt dich ändern zu wollen. Ein schönes weiches Wesen, das Geborgenheit gibt und nicht dauernd Forderungen stellt.

Er hat sie wiedergefunden. Stella. Ist ja nicht so schwer, eigentlich. Er hat ihre Kontaktdaten herausbekommen. Und sie angerufen. Nach all den Jahren. Zweiunddreißig. Ihre Stimme, mit der leichten Vibration auf der ersten Silbe, und mit dem rollenden R. Das hat Ralf geliebt, das rollende R. Obwohl sie es von ihrer Mutter hatte. Am Telefon hat Stella gesagt: Komm doch mal bei mir vorbei auf einen Kaffee! Das hat sie gesagt, und genau so. Nicht: bei uns. Und auch nicht: Lass uns im Café treffen. Aber nein. Komm doch mal bei mir vorbei auf einen Kaffee.
Sie hat nicht gesagt, ob sie allein lebt. Sie hat Ralf auch nicht nach seinem Familienstand gefragt. Aber er hat natürlich ein wenig geforscht, im Netz. Sie ist sparsam mit ihren Informationen. Einen Mann hat er nirgendwo gefunden, nicht bei Facebook und nicht bei Instagram. Auch Kinder nicht. Nur ein paar Bilder von Eberhard. Dass sie von dem noch Bilder hat! Ob er den Unfall mit der Tür überlebt hat? Ralf weiß es nicht. Er hat sie danach nicht mehr besucht, nach dem Riesenaufstand mit Tierarzt und allem. Aber seine eigene Narbe, die hat er noch immer. Eberhard hat immer auf den Knöchel gezielt, erst hat er gebellt und dann zugeschnappt. Dieses verdammte spitzzähnige, langhaarige Ungeheuer.

Klar ist das kein Grund, ein Mädchen zu verlassen, so ein Spitz. Hat Ralfs Kumpel gesagt. Aber der hat Eberhard nicht gekannt. Ralf hat Stella ja auch nicht verlassen, strenggenommen. Er hat sie nur einfach nicht mehr besucht. Und sie ihn dann auch nicht mehr.
Und dann geschah halt dies und das in seinem Leben. Eins kam zum anderen. Beruf, Frauen und so weiter. Ralf hat immer darauf geachtet, dass seine Freundinnen keinen Hund hatten. Gebranntes Kind, und so weiter. Gebissener Mann.
Nicht dass Ralf Angst vor Hunden hätte. Aber, man muss die Dinge nicht unnötig verkomplizieren. Das Leben ist wirklich schon schwierig genug. Mit Frauen sowieso. Da muss man sich nicht noch obendrein ins Bein beißen lassen. Wenn man es doch von vornherein vermeiden kann.
Aber es hat auch nichts geholfen. Die Frauen sind jetzt trotzdem weg. Obwohl sie hundelos waren.
Und jetzt ist Ralf hier. Bei Stella. Auf den Bildern im Netz sieht sie noch fast so aus wie früher. Tipptopp in Form. Allerdings, man kann ja heute einiges machen mit Fotos. Nun, er wird sehen. Ralf hat sich ja auch ein bisschen verändert. Ein paar Haare weniger vielleicht, dafür ist etwas an Gewichtigkeit dazugekommen. Alles von Vorteil, eigentlich.

Er wird jetzt klingeln.
Gleich.
Stella. Was für eine Frau! Alles dran, äußerlich, genau, wo es sein soll, und genau in der richtigen Weise beweglich. Wie sie so hinter Eberhard hergerannt ist, wenn der im Busch verschwand! Ein herrlicher Anblick, von hinten und auch von vorn. Und was fast noch besser war: Man konnte mit ihr schweigen. Von wegen, die Frauen werden wie ihre Mütter. Nein, nicht Stella. Sie nahm es ihm nicht übel, wenn er seinen inneren Gedanken nachging. Nicht wie seine erste Frau, Inga. Reden, reden, reden, das wollte die immerzu. Worüber denn nur immer? Gefühle, Beziehungen, alles so ein Zeugs. Er hat das nicht ausgehalten. Da kam ihm Kerstin gerade recht.
Aber Kerstin war so eine Kritiktante. Ständig hatte sie etwas an ihm herumzumeckern. Beinahe hätte sie Ralf in den Alkoholismus getrieben.
So war Stella nicht. Sie war einfach unabhängiger. Sie hatte ja Eberhard, da wusste sie, wie mit männlichen Wesen zu verfahren ist. Eine erfahrene Frau. Und jetzt ist sie sicherlich noch weiter gereift. Und auch den Hund wird sie jetzt ja wohl los sein. Ach, Stella!

Jetzt. Jetzt macht er es. Ralf hebt die Hand und drückt auf den Klingelknopf.
Innnen ertönt die Glocke, ein helles Läuten mit einem doppelten Ton. Ein schöner Ton. Sehr weit hinten. Es muss eine Wohnung mit einem langen Flur sein. Ralf rückt sich noch einmal die Schiebermütze zurecht. Er wird sie gleich keck lüften, wenn Stella die Tür öffnet, und sich verbeugen, so wie damals. Ein wenig Herzklopfen hat er schon. Stella. In ihrer Pracht. Nach all den Jahren.
Aber was ist das für ein Geräusch? Sehr weit hinten in der Wohnung beginnt ein leises Klappern, das sich immer mehr beschleunigt, so, als würde jemand erst langsam, dann schneller mit mehreren Plastikbestecks auf Laminat entlang kratzen. Das Klappern beschleunigt sich weiter und kommt heran, ein tieferes Geräusch mischt sich dazu, als trüge das Besteck ein Gewicht. Näher und näher kommt es der anderen Seite der Tür, schneller und schneller, jetzt klingt es wie Pferdegetrappel, eine Horde Pferde mit tausend kleinen Krallen, das ergibt keinen Sinn! Als es fast die Tür erreicht haben müsste, hört das Getrappel abrupt auf und weicht einem durchgehenden Schleifgeräusch wie von zehn Plastikbestecken auf Laminat, und dann – ein dumpfer Aufprall. Die Eingangstür vibriert. Gleich wird sie aus den Angeln fliegen. Ralf springt einen Schritt zurück. Was auch immer es ist, was eben gegen die Tür geknallt ist, sammelt sich. Dann beginnt ein akustisches Inferno, ein kreischendes Kläffen, mit einer sich überschlagenden Stimme, abwechselnd im tiefsten Grummeln und im höchsten Falsett, wütend bis zum Exzess.
Ralf zieht den Kopf ein und geht weiter rückwärts, die wackelnde Tür immer im Auge. Hastig wirft er einen Blick ins Treppenhaus. Die Treppe ist noch immer da, offen und einigermaßen beruhigend führen die Stufen nach unten Richtung Haustür.
Der wilde Lärm hinter der Tür wird noch schlimmer. Das Plastikbesteck raspelt jetzt an der Tür, es ist kein Plastikbesteck, es sind messerscharfe Krallen. Als das Ungeheuer hechelnd nach Luft schnappt, kann Ralf hören, wie kleine Holzsplitter von der Tür abgerissen werden.
„Eberhard! Aus, Eberhard!“
Stella. Stellas Stimme! Das rollende R, die feine Vibration auf der ersten Silbe. Aber wieso Eberhard? Ist Eberhard immer noch am Leben? Nach diesem Unfall? Und nach zweiunddreißig Jahren? Die Tür beginnt vor Ralfs Augen zu verschwimmen.
„Stella? Wer hat denn da geklingelt? Hast du jemanden eingeladen?“
Mein Gott. Diese Stimme kennt Ralf doch. Die Fragen auch. Die Mutter! Die Stasi!
Die Panik friert Ralfs Körper und Denken ein. Schritte nähern sich der Tür. Das Kläffen erreicht eine neue Stärke, es klingt jetzt nur noch mörderisch. Die Klinke wird bewegt. Ein Superspitz! Ein Millenniums-Riesenmonster! Eberhard 2.0!

Mit einem gewaltigen Ruck schüttelt Ralf die Lähmung ab und macht einen Satz. Das Getöse hinter ihm verleiht ihm Flügel. Vier Stufen auf einmal nehmend, rast er die Treppe hinunter. Oben geht Stellas Wohnungstür auf. Das Bellen der Bestie im Rücken, hört er oben Stellas Stimme mit dem rollenden R. „Ruhig, Eberhard, Kleiner. Mit dir sind wir wirklich sicher.“
Ralf wirft die Haustür hinter sich ins Schloss und rennt los.