Bildung und Verorsche
Wir haben ja einen Bildungsauftrag. Der geht manchmal gegen den Willen der Schüler, die gar nicht gebildet werden wollen. Oder müssen. Wie ist das denn eigentlich mit dem Bilden? Ist das ein passives oder aktives Verb? Wird man gebildet oder bildet man? Und wenn letzteres, dann was? Sich?
Viele Schüler brauchen sich nicht zu bilden, die meisten Werke der Literatur, Musik und Kunst sind ihnen längst bekannt. Kommt man ihnen mit dem Zauberlehrling oder Vivaldi oder Shakespeare, kennen sie es schon. Das heißt, sie kennen nicht das Werk, sondern sie kennen die Verorsche.
Ach, das? sagen sie, und ihre Finger beginnen unbewusst in ihren Taschen die entsprechenden Codes zu tippen auf ihren elektronischen Gadgets, die sie nicht dabei haben dürfen. Die Codes führen zur Verorsche. Zu jedem Stück gibt es die passende Verorsche.
Eine Verorsche ist ein meist humoristisch gemeintes Stück aus dem Bereich der Unterhaltungsmedien, das irgendwie vom Plot her im Zusammenhang mit einem Werk der Weltliteratur steht. Autoren der Verorsche sind entweder deutsche Comedians oder die Simpsons. Es gibt zum Beispiel Musikverorschen oder Filmverorschen mit der Untergruppe Trailerverorschen. Sehr beliebt sind Politikerverorschen, und für den weniger Anspruchsvollen das einfache Leuteverorschen. Auch für Kulturgüter, die eigentlich selbst von ihrem Wesen her Verorschen sehr nahe kommen, z. B. Werbung oder Computerspiele, gibt es Verorschen. Es gibt inzwischen sogar Verorschen von Verorschen, und wer diese Idee weiter denkt, dem muss um einen Mangel an Material für die Unterhaltungsbranche nicht bang sein.
Schülerbedürfnisorentierte Lehrer bauen die Verorsche in ihren Unterricht ein. Sie lassen die Schüler die Verorsche auf ihren eigentlich nicht erlaubten elektronischen Gedgets mitbringen, und die ganze Klasse guckt oder hört dann die Verorsche. Ein geschickter Pädagoge kann im Anschluss hier und da ein Stückchen des eigentlichen Werkes unbemerkt mit in den Unterricht hineinmogeln. Manche Verorschen (ist das eigentlich der korrekte Plural? Heißt es Verorsches?) bestehen nur aus wenigen Wörtern. Big Brother zum Beispiel ist eine Verorsche, und Schüler wundern sich, wenn sie vom Ursprung dieses Begriffs erfahren: das überaus düstere Buch des meiner Ansicht nach gefährlich depressiven Autors George Orwell, der mit diesem Begriff möglicherweise etwas ganz anderes gemeint hatte als eine extrem verbreitete exhibitionistische Vergnügung von emotional zu wenig beachteten Menschen.
Natürlich gibt es das Wort „Verorsche“ gar nicht, es ist eine am Thüringischen orientierte Lauttranskription einer erst wenige Jahre alten Erscheinung; und ihre, nennen wir sie mal hochdeutsche, Version, die Verarsche, hat trotz Allgegenwärtigkeit noch nicht einmal Einzug in den Duden gehalten. Oder in Wikipedia. Was wir damit machen sollen, was die Verorsche uns sagen will und welchen geheimen Zweck diese geklaut-kreative, irgendwie verdächtige, manchmal jedoch wirklich komische und nicht mehr zu umgehende Erscheinung für unseren Bildungsauftrag hat, das müssen wir noch herausfinden.
Möglicherweise geben findige und mit Verorschen aufgewachsene Pädagogikdoktoranden, die nicht in die Schule wollen und deshalb lieber über die Schule schreiben, irgendwann Abiturthemen heraus wie: Um den wahren Sinn zu finden, musst du in der Verorsche forschen. Oder: Der Mensch ist die höchste Verorsche des Menschen.
Mai 2014