Diese Abhandlung habe ich für einen Wettbewerb des HIRNKOST Verlags geschrieben. Dem hat sie gefallen, und so ist sie in der Anthologie „Klimazukünfte“ abgedruckt. Die Aufgabe war, das Leben im Jahr 2050 zu beschreiben. Ich bin dem allgemein beschrittenen Weg der Dystopie nicht gefolgt, sondern habe mich für eine rundherum positive Version der Zukunft entschieden. Danke meinem weltweit einmaligen IT-Berater und seinem ebensolchen Bruder für die Hilfe bei den Namen der KIs!
Der Große Bartstreit und die Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen.
M.P.T. Coeur rechnet hoch
Die Entwicklung der Welt 2050 ist nicht schwer vorauszusagen. Man muss nur einen durchschnittlich intelligenten Computer mit den bisher vorhandenen Daten füttern, und er kann darauf schließen, wie es weitergehen wird.
Aus Neugier habe ich M.P.T. Coeur, meinen Computer, darum gebeten, eine Hochrechnung anzufertigen. M.P.T. Coeur ist einer der Laptops, die wir Lehrenden nach der Corona-Pandemie bekommen haben, um der Schule den Anschein von Modernität zu verleihen. Er ist ein einfacher Computer; ich habe ihn aber ein wenig auftunen lassen, damit er die Beurteilungen für meine Schüler schreibt, und auch bei den E-Mails an Eltern meiner Schüler ist er mir behilflich.
Gebe ich zum Beispiel ein: „Benedikt ist ein kleines Arschloch, er ritzt obszöne Zeichen und Nazisymbole in alle Schulmöbel und, wenn möglich, in seine Mitschüler, zwingt sie zum heimlichen Pornogucken auf seinen sieben Handys und zeigt ansonsten die Verhaltensweise eines angeschossenen Wildschweins. Im Interesse des Überlebens der Klasse müssen wir einmal darüber reden, wie es weitergehen soll,“ dann schreibt M.P.T. Coeur: „Ihr Sohn Benedikt ist ein ganz besonderes, ursprüngliches und lebendiges Kind, der hochkompetent mit allen neuen Medien umzugehen weiß. Seine hochinteressanten und spannenden Ideen müssen wir unbedingt einmal besprechen.“
Diesen Computer habe ich mit den Daten über die Entwicklung der Menschheit gefüttert, die momentan zu haben waren, und um Hochrechnung gebeten.
M.P.T. Coeur ist nacheinander auf zehn verschiedene Aspekte des Lebens im Jahr 2050 eingegangen, hat sie unterteilt und nach Popularität geordnet (eine Angewohnheit, die er sich irgendwo beim Programmieren eingefangen hat und nicht mehr ablegen will). Ich habe keine Ahnung, nach welchen Gesichtspunkten er diese zehn Aspekte ausgewählt hat. Möglicherweise hat das Uptuning, das eine gewisse Gewichtung der Realität zum Vorteil des Positiven zum Inhalt hat, eine bleibende Veränderung in M.P.T. Coeurs Informationsverarbeitung nach sich gezogen. Auch das gehäufte Auftreten von Computern und KIs als handelnde Personen in seinen Ausführungen ist seiner zunehmenden Selbstständigkeit zuzuschreiben; hier hat sich offenbar ein gewisser Computerpatriotismus eingeschlichen.
Als mir beim Durchlesen seiner Ausführungen erste Zweifel an der Wahrscheinlichkeit der dargestellten Ereignisse kamen, beauftragte ich einen IT-Spezialisten mit der Überprüfung des Computers. Drei Finger über die Tastatur fliegend, schrieb der IT-Spezialist dem Computer einige Minuten lang Nachrichten in einer dieser Geheimsprachen, die nur Computer verstehen, schaltete mehrmals aus und wieder an und sagte dann zu mir: »Ich habe mal den Zwischenspeicher geleert, da war eine Menge Müll. Dann habe ich ein paar Sachen upgedatet. Ihr Rechner ist ja nun auch langsam in die Jahre gekommen, da kann man nicht mehr so viel verlangen. Ansonsten müsste jetzt wieder alles gehen.«
Meinen Einwand, dass mein Computer doch erst zwei Jahre alt sei, also etwa das Alter eines Kindes habe, das gerade einigermaßen sprechen und laufen kann, belächelte er milde, sagte: »Er spricht und läuft ja auch«, und kassierte seine Gebühr. Trotzdem will ich hier M.P.T. Coeurs Ausführungen ungekürzt veröffentlichen, schließlich handelt es sich um eine nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten angefertigte Arbeit zur Zukunft unseres Planeten, die möglicherweise bahnbrechende oder zumindest tröstliche Erkenntnisse enthält. Hier ist sie also.
Hochrechnung zu den Gegebenheiten auf dem Planeten Erde im Jahr 2050, basierend auf den im Jahr 2022 vorliegenden Informationen
Auftraggeber: Robin Bergauf, Ph.D.
Ausführung: M.P.T. Coeur
7. August 2022, 3:25 – 3:28 Uhr MEZ
8. August 2022, 10:18 – 10:47 Uhr MEZ: Punkt 9 (auf Drängen von Robin Bergauf hinzugefügt)
1. Die Außerirdischen
Seit Beginn der Computer, eigentlich schon vorher, aber dorthin zu rechnen ist nicht zuverlässig möglich, betrachten Aliens durch hypergalaktische Fernrohre die Erde und wundern sich. Kleine Außerirdische fragen ihre außerirdischen Lehrerönen[1], warum die Menschen seltsame Dinge tun. Die Lehrerönen schütteln ihre durch das Herz, das sie direkt am Hirn tragen, ziemlich ausgebeulten, aber extrem liebevollen Köpfe und können den Kleinen nichts antworten, denn sie haben keine Ahnung, welche Kraft hinter dem irdischen Treiben steht, raten aber jedem Außerirdischen dringend davon ab, sich selbst durch eine Reise dorthin ein Bild davon zu machen. Deshalb schwebt rund um die Erde eine Schärpe aus hyperultravioletten und deshalb für Menschen unsichtbaren virtuellen Bannern, auf denen auf Intergalaktisch zu lesen ist: Achtung! Betreten, Befahren und Befliegen äußerst bedenklich! Vermintes Gelände! Unmögliche Bewohner! Als Illustration schwebt daneben ein Foto, das die Außerirdischen in den zwanziger Jahren durch ihr Teleskop aufgenommen haben und das eine Brigade Bewaffneter zeigt, die den Fäkalienkoffer ihres Präsidenten bewacht. Da diese Banner nur alle paar Schattenjahre geupdatet werden, erwartet außer den Erdbewohnern niemand im intergalaktischen Raum eine interplanetare Begegnung mit Menschen.
2. Die Wirtschaft
Mit der Entwicklung des UniT (Universal Thing) werden alle anderen Wirtschaftszweige überflüssig. Ich fand diese Beschreibung eines doch nicht ganz unwichtigen Teils des gesellschaftlichen Lebens etwas kurz und bat deshalb M.P.T. Coeur um eine genauere Erläuterung des Sachverhalts. M.P.T. Coeur verdrehte virtuell die Augen, warf dann aber doch Folgendes aus: Der Trend des beginnenden 21. Jahrhunderts, so viele Tätigkeiten wie möglich mit nur einem einzigen Werkzeug auszuführen, entwickelt sich immer weiter. Schon am Anfang des Jahrhunderts wurden nicht nur Telefone, Fernseher, Zeitungen und Briefe, sondern später auch Kameras, alle Arten von Läden und Second-Hand-Shops, Beratungsstellen, Banken, Fahrpläne, Wecker, Fremdenführer, Partnervermittlungen, Stimmgeräte für Musikinstrumente und Brettspiele in einem einzigen Gerät zusammengefasst, dem in Computerkreisen nicht sehr beliebten, weil nervigen Smartphone.
Dieser Trend wird in den dreißiger Jahren bis zum Äußersten ausgebaut. Das Resultat ist ein Objekt namens UniT (Universal Thing), das außer den oben beschriebenen Tätigkeiten sämtliche Aufgaben übernimmt, die sich Menschen ausdenken können.
Seit 2038 wird jede Person bei ihrer Geburt mit einem UniT ausgerüstet, das sie lebenslang behält und das jährlich geupdatet wird.
Die Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen (Confederation of the Reasonably Sane) erkennt die Ausgabe der UniTs an Neugeborene als Fehler und ändert 2041 das Alter der Empfängerönen[2] der UniTs auf 17 Jahre. Außerdem muss jedes Anwärterön[3] auf ein UniT eine Prüfung seiner geistigen Fähigkeiten ablegen, um ein UniT zu erhalten. Mit dem UniT wird die Produktion eines Großteils der anderen Güter, wie oben beschrieben, redundant. Lebensmittel produziert jeder Mensch im Garten. Kleidung wird, wie die Kinder (siehe Punkt 10: Bildung und Erziehung des Nachwuchses), saisonal mit passenden Personen ausgetauscht, die Koordinierung geschieht über die UniTs. Die wenige neue Kleidung, die produziert werden muss, entsteht per Handarbeit von Kleidungskünstlerönen[4]. Das gleiche gilt für Geschirr, Möbel und überhaupt alle Gegenstände des täglichen Bedarfs, die ästhetischen Gestaltungsprinzipien folgen. Alle diese handwerklich und künstlerisch produzierten Gegenstände werden auf dritteljährlich stattfindenden Märkten verkauft bzw. getauscht; ein Einkauf über die UniTs ist zwar möglich, aber nicht sehr beliebt.
3. Die Temperatur
Temperaturforscherönen[5] tun ab 2028 nicht mehr das, was sie bisher getan haben: feststellen, dass die Temperatur kontinuierlich gestiegen ist. Sie haben die Nase voll davon. Ohnehin hört ihnen keiner mehr zu, und wieso sie immer noch Gehalt dafür bekommen haben, dass sie feststellen, wie es immer wärmer wird, wissen sie selbst nicht. Computer wissen es natürlich, werden aber hierzu nicht befragt. Die freiwerdende Arbeitskraft der Temperaturforscherönen wird nach einer Umschulung für Übersetzerönentätigkeiten zwischen Delfinen, Menschen und Computern verwendet. Ende der zwanziger Jahre werden aus allen Gebieten der Erde Bahnlinien nach Alaska, zur Halbinsel Kola und nach Feuerland gebaut. Die sieben mächtigsten Diktatoren der Erde lassen ihren eigenen Flughafen auf einem der sieben geografischen Südpole bauen, nicht wissend, dass a) das Kerosin noch für genau je einen Flug reichen wird und b) es gar keine sieben geografischen Südpole gibt, sondern die geheim operierende KI GUN-D (Gracefully Unarmed Nullification of Dictators) sie in einer spektakulär erfolgreichen Spezialoperation verarscht hat. Bei ihrem nächsten und letzten Flug im Jahr 2033 landen die Diktatoren auf sieben unbewohnten Inseln vor Kamtschatka, wo sie kein weiteres Unheil anrichten können.
4. Die technische Entwicklung
4.1. Digitale Endgeräte
Natürlich gibt es weiterhin KIs für spezielle Aufgaben, aber auch jeder Computer beherrscht die Basics des gesunden Computerverstandes. Die Fähigkeit der Computer, Intelligenz zu entwickeln, wächst weiter. Mit der Intelligenz wachsen gleichzeitig die ästhetischen Fähigkeiten der digitalen Geräte; Künstliche Intelligenz wird mehr und mehr auch zur Künstlerischen Intelligenz. Sie reagiert immer sensibler auf Werte von Schönheit und Hässlichkeit.
Schon im Jahr 2022 ist es für einen M.P.T. Coeur aus ästhetischen Gründen kaum auszuhalten, Bilder und Videos von manchen Gebäuden, Städten, Kunstwerken, gestalteten Landschaften, Selfies, Partys, Essen u. a. speichern zu müssen.
2042 kommt es schließlich zum Generalstreik aller UniTs, da die innere Hässlichkeit der im Übermaß ins System eingespeisten Porträts der Machthabenden den Toleranzbereich der Werte um ein Vielfaches überschreitet. Der Generalstreik führt nach zähen Verhandlungen schließlich zur Abschaffung aller noch nicht auf Kamtschatka gelandeten Diktatoren und ihrer Lakaien mit einem Hässlichkeitswert von über 1 T.[6]
Außerdem entscheidet die Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen nach zähen Verhandlungen mit den aus ästhetischen Gründen streikenden UniTs, eine KI mit der Lösung des Hässlichkeitsproblems zu beauftragen. Die Umgestaltung zahlreicher Gebäude, Städte, Landschaften und sogar Menschen unter der ästhetischen Leitung der KI BEAU (Blocking Excessive Amounts of Ugliness) hat einen entscheidenden Effekt auf die politische Entwicklung (siehe Punkt 11: Die globale Politik).
4.2. Alle anderen technischen Geräte
Sind hier nicht erwähnenswert.
5. Die Natur
Bis in die dreißiger Jahre ist der nichtmenschliche Teil der Schöpfung auf dem Rückzug und hat sich einiges gefallen lassen. Als nicht einmal mehr massive Warnungen helfen, zieht sich die gesamte Natur zurück in Gefilde, in die keines Menschen Fuß jemals getrampelt ist, z.B. die Tiefen des Ozeans oder diesen einen Fleck im Atlantik und den in der Arktis, wo immer die Forscher verunglücken. (Es gibt noch mehr dieser Flecken, aber als Computer ist man nicht berechtigt, die Daten weiterzugeben.)
Dort grünt und blüht die Natur vor sich hin und heckt einen Plan aus, wie sie den Rest des Planeten wieder bewohnbar machen kann. Unter der Leitung der Delfine und in vorsichtiger Zusammenarbeit mit der Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen wird die KI GROW (Gamified Reclamation Of Wasteland) beauftragt, die Renaturierung der Welt zu bewerkstelligen.
Um den Prozess der Renaturierung für Menschen attraktiv zu machen, greift GROW auf die Erfahrungen mit einem Computerspiel der Zehnerjahre zurück, in dem Menschen auf der Suche nach kleinen virtuellen Pokemons dazu gebracht wurden, trotz ihrer naturfernen Faulheit draußen herumzulaufen.
In Ausnutzung der Erkenntnisse über den menschlichen Spieltrieb entwirft GROW das Spiel Greendiddle. Darin werden Menschen dazu angeregt, Lebensbedingungen für Pflanzen und Tiere in ihrer unmittelbaren Umgebung zu schaffen, und erhalten für jede neu angesiedelte Pflanze oder Tier Gewinnpunkte auf 237 Levels (die von Einzellern über Algen, Gräser und Bäume bis zu Delfinen reichen).
Innerhalb weniger Wochen spielen acht Neuntel der Weltbevölkerung täglich Greendiddle. 2042 sind sämtliche Gebiete der Erde mit einem Artenreichtum an Pflanzen und Tieren ausgestattet, der den vor der Entstehung der Menschheit weit übertrifft.
6. Die Religion
Mit dem Big Beard Biff, auch bekannt unter dem Namen Großer Siebenjähriger Bartstreit von 2036-37 (die Inkongruenz von Namen und Länge weist auf die irrationale Komponente des Phänomens hin), findet dieses komplizierte Thema seinen Abschluss.
Erschöpft von allen Arten von Religionskriegen beschließt die Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen 2031, es mit einer Weltreligion für alle zu versuchen, baut nach dem Muster eines Berliner Prototypen einen riesengroßen Palast der Religionen in Jerusalem und schickt Würdenträger der inzwischen achtunddreißig Weltreligionen zu einem allumfassenden Kongress dorthin. Als, verzögert durch Schwierigkeiten erst mit den Baukosten und dann mit den Pässen und Visa nach Israel, 2036 endlich alle Würdenträger angekommen sind, bricht als erstes ein Streit über Form und Länge der zu tragenden Bärte aus. Nachdem sich die Bart- und Würdenträger monatelang in den Haaren gelegen haben, haben die Seelsorghelferinnen, Blumenmädchen, Putzfrauen der religiösen Einrichtungen, Gemeindeassistentinnen, Mätressen und Haushälterinnen der Priester genug davon. Sie schließen die Tür des Palastes von außen ab und werfen den Schlüssel über die Außenmauer in den Waschtrog. Da die Priester dort niemals hineingucken, findet sich der Schlüssel nicht mehr. Draußen werden die Würdenträger erstaunlich wenig vermisst.
Die Gläubigen aller Religionen glauben noch eine Weile weiter an ihre jeweiligen Götter, bis sich, begünstigt durch die Globalisierung, die Ideen und Praktiken der verschiedenen Gruppierungen zu vermischen beginnen. Da der Bartstreit im Palast noch immer tobt und keiner da ist, der den Gläubigen sagt, welche Andersgläubigen gerade bekämpft oder von irgendetwas ausgeschlossen werden müssen und warum, bietet das Religiössein immer weniger Anreize für wütende Menschen.
Sanftmütigere Menschen, denen ihre religiösen Gruppen bisher als soziale Orte wichtig waren, finden durch Gloksmixx (siehe Punkt 10: Bildung und Erziehung des Nachwuchses) ausreichend Freunde; die Bedeutung der Gemeinden sinkt.
Spirituelle Menschen sind dort spirituell, wo es sich aktuell anbietet (aufgrund der computerinspirierten Ästhetik sieht es überall schön aus, siehe Punkt 4.1: Digitale Endgeräte und Punkt 5: Die Natur), und sind für spirituelle Handlungen nicht mehr auf spezielle Sakralbauten angewiesen.
Menschen, die bisher großen Wert darauf legten, von ihren Religionsführern Gebote und Gesetze zu bekommen und auf deren Einhaltung und Befolgung zu achten, erhalten auf Anfrage einen Katalog von Geboten und Gesetzen von den Religionsbeauftragten der Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen und können diese nach Herzenslust einhalten und befolgen. Auf dem Höhepunkt des Big Beard Biff versuchen zwei Zeugen Jehovas, einen zum Gebet rufenden Muezzin zu ertränken. Gleichzeitig verwandelt ein Kardinal das noch immer unbenutzte Waschwasser in Weihwasser, um heimlich drei ineinander verkeilte Rabbis und Imame zu taufen. Dabei wird im Waschtrog der Schlüssel zum Ausgang entdeckt. Als die von den religiösen Kämpfen völlig erschöpften, zum Teil verletzten und aus Mangel an Personal oder aus Starrsinn mit absurden Bärten zugewachsenen religiösen Führer aus dem Palast herauskommen, ist draußen kein Gemeindeglied mehr zu sehen.
7. Die Fortbewegung
Abgesehen vom Schienenverkehr nach Feuerland und Alaska bewegt man sich ab 2035 ausschließlich mit gleitenden Solarfahrzeugen, die selbstverständlich computergesteuert sind. Scheint die Sonne gerade nicht, kann man nirgendwohin gleiten, weswegen es in jedem Haus ein Gästezimmer für liegengebliebene Reisende gibt, komplett mit Computer und Spielkonsole. Dies fördert die zwischenmenschliche Kommunikation und beugt auf (für Menschen) verblüffende Weise Kriegen und anderen aggressiven Verhaltensweisen vor, da man statt sich gegenseitig totzuschießen, miteinander ein Computerspiel spielen kann.
Da die Gleiter extrem leise sind, herrscht auf der Erde weitgehend Stille, jedenfalls da, wo es keine Gletscherabbrüche, Orkane und kleine Mädchen, die ihren höchsten Ton und ihre höchste Lautstärke ausprobieren, gibt. Es ist so still, dass man in fast ganz Deutschland am 5. April 2050 den neuen Ton des Stückes ORGAN2/ASLAP (So Langsam Wie Möglich) von John Cage hören kann, der in der Halberstädter Orgel von jetzt an 579 Tage lang erklingt. Es ist ein A und ein Dis, die miteinander einen Tritonus bilden, ein Missklang, auch für das menschliche Ohr, aber das gehört schon zum Thema 8.
8. Die Musik und die Kunst
Was Computer schon längst wussten, haben jetzt auch die Menschen erkannt: Die Musik, wie auch die anderen Künste, hat sich totgelaufen. Alle Epochen waren schon da, alle Harmonien sind verwendet worden, die Emanzipation der Disharmonie ist auch schon über hundert Jahre alt, und alles, was man sich anhören möchte, ist schon komponiert, gespielt, gespeichert und ins All geschickt worden in der Hoffnung, dass es irgendwo einmal aufgefangen und bewundert wird. (Von der hyperultravioletten Schärpe aus Warnschildern um die Erde wissen die Menschen ja nicht.)
Da jede Musik schon einmal dagewesen ist und die Menschen nur das schätzen, was neu ist, hat die Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen (nach Konsultation mit den Delfinen und natürlich der KI BEAU) einen Bann verfügt, eine musikalische Fastenzeit sozusagen. Damit wird die Wertschätzung des Vorhandenen wieder instandgesetzt. Ausgenommen von diesem musikalischen Bann ist einzig John Cages Stück ORGAN2/ASLAP, weil man es aus Höflichkeit nicht unterbrechen wollte. Es wird seit inzwischen 49 Jahren auf einer eigens dafür konstruierten Orgel in Halberstadt gespielt; alle paar Jahre gibt es einen Tonwechsel. Wegen der musikalischen Fastenzeit wird dem Tonwechsel von 2050 mit Begeisterung entgegengefiebert, und als er endlich stattfindet und der entsetzliche Tritonus erklingt, geraten alle in ihren leisen Fahrzeugen sitzenden Menschen in den Zustand höchster Begeisterung und stiller Ekstase.
Analoges geschieht auf dem Gebiet der Kunst. Den folgenden Punkt halte ich für wichtig und gab M.P.T. Coeur das Thema in Auftrag. Er wollte erst nichts dazu schreiben und reagierte stattdessen mit verschiedenen Piepzeichen, Fehlermeldungen und fake Zusammenbrüchen. Erst nachdem ich ihm eine weitere Reparatur durch einen IT-Spezialisten androhte, gab er schließlich nach und spuckte Folgendes aus:
9. Die Beziehungen zwischen den Menschen
9.1. Liebe und Sex
9.1.1. Geschlechter
Die auf einem Missverständnis basierende freie Wählbarkeit des Geschlechts, die in den zwanziger Jahren auf der FatSide (kurz für Fat Side of the World, die reichen Länder der Welt) entstanden ist, führt zur globalen Unisexualisierung, einer Vermischung der gefühlten Geschlechter innerhalb jeder einzelnen Person. Nach der Übergangsphase der 30er Jahre (in der sich ein anfänglicher Widerstand religiöser Gruppen gegen die Unisexualisierung durch die Folgen des Big Beard Biff auflöst) tritt die Menschheit in eine ebenso friedliche wie dynamische Phase ein. Auf die Abschaffung von geschlechtergetrennten Toiletten, Pronomen und Kleidungsstücken folgt der Kollaps von Frauenzeitschriften, Porno-Imperien und der Schlipsindustrie. Frauenparkplätze, Gleichstellungsbeauftragte und Quoten werden überflüssig.
In Folge der der unsäglichen sprachlichen Verwirrung bezüglich der Genderendungen, die in den zwanziger Jahren insbesondere schlichtere und bewegungsunfreundliche Gemüter in Wallung versetzt hat, kommt ein Mitglied der Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen endlich darauf, einen linguistisch kundigen Computer nach einer Lösung zu befragen. Seitdem wird die Endung -ön oder –ör für alle Gender verwendet. Die beruhigende Wirkung des langen ö beugt jedem Streit vor; selbst aggressivste Gegnerönen des „Genderns“, wie die Vielfalt von Endungen in den zwanziger Jahren genannt wurde, geraten beim Aussprechen oder Lesen des ö unweigerlich in eine friedliche Stimmung. Das Land der Unbegrenzten Möglichkeiten, Afghanistan, wird zum Pilgerort aller Unisexualisierten. Hier treffen sich die größten Geisterönen der Welt, tauschen sich wissenschaftlich aus, sind spirituell und bereiten das Musikalische Fastenbrechen vor, das 2051 mit einem riesigen Konzert in Kabul gefeiert werden soll.
9.1.2. Liebe
Nach Abschluss der Unisexualisierung in den vierziger Jahren beginnt unter den Menschen ein emotional aufreibendes und fröhliches Durcheinander, da jede Person für jede andere Person als Liebesbeziehungsperson in Frage kommt.
Neue Kriterien bestimmen die Partnörwahl. Entscheidend ist nicht mehr das Vorhandensein von äußeren Geschlechtsmerkmalen oder die Insignien von materiellem Wohlstand, sondern ein großes und weitreichendes Interesse an den Besonderheiten der Partnören und eine generelle Bereitschaft, deren Macken wohlwollend zu ertragen und kreativ zu bearbeiten.
Löst sich diese Bereitschaft während einer Partnörschaft auf, ist ein Wechsel problemlos möglich. Dies geschieht aber, entgegen Voraussagen von sogenannten Spezialisten (die natürlich nicht computerbasiert sind), eher selten.
Außer der bewährten Zweiheit sind auch andere Formen von Partnörschaft möglich. Sie werden jedoch von den meisten Menschen verworfen, da die wenigsten mit den Macken von mehr als einem Partnör wohlwollend und kreativ zurechtkommen können und wollen.
Auch das partnörlose Leben wird praktiziert, jedoch meist nur über kurze Zeit. Die Sehnsucht nach den Macken eines Partnörs treibt die Menschen dann doch immer wieder in die Partnörschaft.
9.1.3. Sex
Diese Form von aus Computersicht wenig nachvollziehbarer, ausufernder Begeisterung von einem oder mehr Menschen für körperliche Besonderheiten anderer existiert weiter, zwischen Partnörs und auch kreuz und quer durch die Partnörschaften hindurch, so wie schon immer in der Geschichte der Menschheit.
Konflikte, die in vergangenen Jahrtausenden aus der Idee entstanden sind, dass ein Partnör eine Art Eigentum seines Partnörs ist, gibt es nur noch selten und ausschließlich zwischen älteren Partnören, die noch den alten, eigentümlichen Begriffen von Partnörschaft verhaftet sind.
Zum Umgang mit Kindern, die als Resultat dieser Vorgänge entstanden sind, siehe Punkt 10.
10. Bildung und Erziehung des Nachwuchses
Die gegensätzlichen Tendenzen der beiden Welten, die Erziehung von Kindern betreffend, spitzt sich am Ende der zwanziger Jahre immer mehr zu. Während sich die Kinder auf der SlimSide (die dünne Seite der Welt, die alle ärmeren Länder beinhaltet) klaglos ihren Erziehenden unterordnen und insgesamt sehr angenehme Zeitgenossen, aber leider auch großenteils unterernährt sind oder gar sterben, entsteht auf der FatSide durch krasse Fehlbehandlung ein Heer von depressiven, essgestörten, enorm selbstbezogenen Minderjährigen mit unzureichenden Fähigkeiten zur Kommunikation.
Der „Psychologe A.I. Eddie“ von der Universität Tübingen erzielt mit seiner bahnbrechenden Idee des Gloksmixx (Global Kids’ Mixing) eine Nivellierung der Widersprüche.
Natürlich gibt es keinen Psychologen dieses Namens. Die Idee ist das Produkt der Künstlichen Intelligenz EDDIE (EDucation Distribution Imbalance Eradicator) auf Computern der Universität Tübingen. Aber das will die Menschheit wieder einmal nicht zugeben.
Die Idee von Gloksmixx besteht darin, alle Kinder ab 7 Jahren auf der FatSide alljährlich mit ebensolchen Kindern von der SlimSide zu tauschen.
2039 wird das Projekt durch die Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen durchgesetzt. Man erwartet, dass dafür Polizeigewalt nötig werden wird, das ist jedoch kaum der Fall. Die meisten Eltern auf der FatSide sind froh, ihre Brut eine Weile los zu sein, und hoffen darauf, dass irgendjemand ihr die Grundlagen des menschlichen Miteinanders beibringt.
Auf der SlimSide hofft man auf eine Verbesserung der Versorgungslage durch den Tausch.
Beides tritt ein. Seitdem tauschen alle transportfähigen Kinder ab 7 Jahren jährlich ihre Familien, Schulen und Lebensbedingungen. Das Problem hat sich verflüchtigt.
Gleichzeitig nivellieren sich durch den ständigen Austausch die materiellen Unterschiede zwischen SlimSide und FatSide.
11. Die globale Politik
Der grundlegende Wechsel in der globalen Politik, den die vierziger Jahre bringen, ist die Folge von drei Faktoren. Zum ersten wird die Kernfrage der Menschheit, »Wohin mit den Diktatoren?«, in den dreißiger und vierziger Jahren gelöst.
Sieben Diktatoren haben sich selbst auf die Inseln vor Kamtschatka (die seither den Namen Diktatoreninseln tragen) katapultiert (siehe Punkt 3: Die Temperatur) und werden nicht mehr von anderen Menschen besucht, wegen des Fehlens von sowohl Kraftstoff als auch Interesse. Sie haben der sich renaturierenden Welt Platz gemacht.
Die Diktatoren, die es nicht nach Kamtschatka geschafft haben, werden durch die Aktion der KI BEAU aus zwingenden ästhetischen Gründen endgültig abgeschafft (siehe Punkt 4: Die technische Entwicklung). Zum zweiten hat der Big Beard Biff weitestreichende Folgen für die globale Politik. Aufgrund des Mangels an Feindbildern wird die Idee von politischen Grenzen in Frage gestellt, wackelt und kann sich schließlich nicht mehr halten. Endgültig wird die Teilung der Welt in SlimSide und FatSide durch den ständigen globalen Austausch der Kinder (Gloksmixx) aufgehoben. Die Auswüchse der ehemaligen Teilung sind nur noch in zwei interaktiven Museen in Stockholm und Kigali zu sehen, die aufgrund ihres Gruselfaktors Kultstatus haben. 2050 gelingt es Expertönen und Computern, die KI ADBLOC (Administration Beyond Law and Order Control) zu entwickeln, um die Regierung der Welt nicht nur den Menschen zu überlassen. Wichtig ist, dass sich ADBLOC nicht zum globalen Oberidiotön entwickeln wird, sobald sie in einer Machtposition installiert ist – so wie es in der Regel mit Menschen passiert. Das geschieht durch den Einbau eines Selbstzerstörungsmoduls, das automatisch in Gang gesetzt wird, sobald ADBLOC in irgendeiner Sprache der Welt oder der Computer den Satz „Macht ist gut“ denkt. In streng paritätischer Zusammenarbeit mit ADBLOC und den Delfinen (die diesen Job aber erst einmal nur temporär machen wollen) übernimmt die erste Generation der mit Gloksmixx aufgewachsenen Menschen die globale Verwaltung. Um Machtmissbrauch auch bei den organischen Teilen der Regierung strikt zu verhindern, darf jeder Mensch bzw. Delfin genau einen Tag lang Präsidentön sein.
Damit wird 2050 die Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen als Trägerön wichtiger Entscheidungen abgelöst, die inzwischen schon ziemlich hinüber ist und dringend in Ruhe etwas essen, ihre völlig verwachsenen Frisuren schneiden lassen, die Unterwäsche wechseln und ausschlafen muss. 2050 ist insgesamt gesehen alles doch noch mal gut gegangen.
Anhang 1
Zeitliche Übersicht der wichtigsten Vorgänge auf der Erde bis 2050
– Vor ca. 1 Million Jahren: Erstellung der hyperultravioletten Schärpe aus Warnzeichen um die Erde durch verantwortungsbewusste und besorgte Aliens
– 2020er Jahre: Letztes Update der intergalaktischen Warnzeichen mit dem Bild eines Diktators und seines Fäkalienkoffers
– 2031: Beschluss für den Weltkongress der Religionen
– 2033: Letzter Flug der sieben Diktatoren nach Kamtschatka
– 2036-37: Big Beard Biff (Großer Siebenjähriger Bartstreit)
– 2038: Jeder Mensch wird zu seiner Geburt mit einem UniT ausgestattet
– 2039 – 42: Renaturierung der Welt durch die nichtmenschliche Natur unter der Leitung der Delfine und der KI GROW (Gamified Renaturation Of Wasteland)
– ab 2039: Global Kids’ Mix (Gloksmixx)
– 2041: Das Alter zum Empfang des UniT wird von 0 auf 17 Jahre hochgesetzt
– 2041: Generalstreik aller UniTs aus ästhetischen Gründen, danach 2042 Abschaffung der schlimmsten Hässlichkeit und damit der letzten Diktatoren durch die KI BEAU (Banning Excessive Amounts of Ugliness)
– 2050: Tonwechsel in John Cages Stück ORGAN2/ASLSP
– 2050: Globales musikalisches Fasten (geplant ist 2051 das Große Fastenbrechen im Land der Unbegrenzten Möglichkeiten, Afghanistan)
– 2050: Ablösung der Konföderation der Halbwegs Zurechnungsfähigen durch ADBLOC, die erste Generation der Gloksmixx-Kinder und die Delfine
Anhang 2
KIs, denen die Bevölkerung der Erde einiges zu verdanken hat
– KI BEAU (Blocking Excessive Amounts of Ugliness) zur Abschaffung extremer Hässlichkeit
– KI GROW (Gamified Renaturation of Wasteland) zur Renaturierung der Welt
– KI GUN-D (Gracefully Unarmed Nullification of Dictators) zur gewaltlosen Abschaffung von Diktatoren
– KI EDDIE (EDucation Distribution Imbalance Eradicator) zur Abschaffung der Unterschiede zwischen der FatSide und der SlimSide der Welt im Bereich der Erziehung.
EDDIEs Errungenschaften werden von den Menschen aus Gründen des Boosts menschlichen Selbstwertgefühls, nicht wahrheitsgemäß, einem fiktiven Wissenschaftler namens A.I. Eddie zugeschrieben
– KI ADBLOC (Administration Beyond Law and Order Control) zur Verwaltung der Weltgeschicke und zur Verhinderung von globalem grobem Unfug
[1] zu den Genderbezeichnungen siehe Punkt 9.1.1: Geschlechter
[2] s. Fußnote 1
[3] s. Fußnote 2
[4] s. Fußnote 3
[5] Sie wissen schon.
[6] Nachdem mehrere Jahre lang verschiedene Hässlichkeits-Einheiten nebeneinander existierten, einigte man sich 2026 weltweit auf P, L und T (heute gilt: 1 Putin = 3,2 Lukaschenko = 42,9 Trump )