„Da ist er, der Huckel“, sagt meine physiotherapeutische Nachbarin zu mir. Ich versuche den Kopf zu heben, aber der stechende Schmerz zwingt ihn wieder hinunter auf das inzwischen etwas feucht gewordene Tuch, das auf dem Kopfteil des Massagestuhles liegt.Der Stuhl ist eigentlich kein Stuhl, sondern eine aus Stahl und Leder bestehende Konstruktion, die eine Art Kreuzung zwischen Zahnarztstuhl, Gynäkologenstuhl und Chefsessel darstellt. Das besondere an ihm ist, dass man verkehrt herum darauf sitzt, nämlich mit der Vorderseite zum Stuhl, damit der Rücken den forschenden bis wohltuenden Händen der massierenden Person ausgesetzt ist. Den Kopf legt man, hat man sich auf Knien und Bauch wohlig in dem technischen Wunderwerk niedergelassen, auf dem mit einem Einwegtuch bedeckten Schwarzlederkissenkopfstück ab, und von da an ist man in den Händen der Masseuse.
„Bap bür ein Huckel?“, nuschele ich ins Kopfpolster.
„Der Lehrerhuckel. Stiernacken“, ächzt meine Nachbarin. Sie arbeitet schwer. Ihre starken Daumen gleiten abwechselnd rechts und links von einem knorpelgleichen Muskelstrang unterhalb meines Nackens ins daneben liegende wehrlose Gewebe.
Bilder von bergmännischen Pionieren, die sich mit Presslufthämmern einen Weg durch das störrische Gestein bahnen, ziehen durch mein von der Außenwelt abgeschottetes Gesichtsfeld.
„Vielleicht willst du lieber erst mal woanders…?“, schlage ich zögerlich vor. Ich habe jetzt die Stelle im Gesichtskissen gefunden, die meinem Mund Atmung und Sprechmöglichkeit eröffnet.
„Das kriegen wir schon hin“, keucht sie, „du bist hier schon sehr…“
„Verspannt, verklemmt, verhärtet, fehlbelastet, umgeleitet, unverstanden, schiefgelatscht…?“, schlage ich vor. Sie atmet tief ein und aus, wahrscheinlich macht sie eine ihrer yogischen Atemübungen, die unweigerlich in einer unglaublich positiven Aussage münden.
„… stark“, beendet sie nach einem letzten tiefen Schnaufer. Die Hände machen sich wieder über das Gebilde in meinem Nacken her. Ich versuche auch ein paar der magischen Atemzüge zu machen.
„Findest du?“, ist das Positivste, was ich schaffe. Immerhin.
„Haben das eigentlich alle Lehrer?“
„Natürlich! Deiner geht doch noch.“ Noch ein rutschiges Abglibbern am Gegenstand der Unterhaltung.
„An der Stelle sammelt sich alles, was einem im Nacken sitzt. Was ihr alles abkriegt! Die ganzen Verrücktheiten der Eltern, die Frustrationen der Kinder, die fehlgeleiteten Energien! Da müsst ihr euch dagegen stark machen und das abgleiten lassen.“
Eine Art kollektiver Stolz auf diese selbstgeschaffene Behinderung entsteht in mir. Ratsch. Glibber. Ein Stück davon scheint sich aufgelöst zu haben und beginnt ein sebstständiges Dasein als Muskelkater.
„Aber könnte ich nicht einfach weich und geschmeidig bleiben?“, träume ich realitätsfern und illusorisch.
Schweres, hochkonzentriertes Schnaufen ist meine wohlverdiente Antwort.
„Da würde dann einiges nicht von mir abprallen. Oder wie? Wie wäre das, wenn ich einer biegsamen Gerte gliche? Oder einem Bambushalm, der sich im Sturme neigt und doch nicht bricht? Könnte ich mich dann tief beugen in den wüsten Orkanen eines Elterngesprächs und den Seebeben einer Musikstunde?“
Das tiefe Atmen scheint dem Ringen um Luft gewichen zu sein, das höchste körperliche Anstrengung begleitet. Was erzähle ich hier eigentlich? Wo kommt diese fürchterliche Mischung aus Gejammer und schlechter Poesie her? Aus meinem Lehrerhuckel?
„Was mir im Nacken sitzt, sind ja noch viel schlimmere Dinge. Ich muss andauernd alles mögliche bewerten. Dinge, die Kinder sowieso tun würden, muss ich mit Zahlen zwischen eins und sechs kommentieren. Ich muss sie dazu bringen, Dinge zu tun, die sie natürlicherweise nicht tun würden, und die auch mit Zahlen von eins bis sechs kommentieren. Ich muss Kinder aus meiner Klasse rauskomplimentieren, weil sie nicht ins Gymnasium passen. Ich bin eine Stütze des Systems der Teilung in Obendie und Untendie, das in der Schule beginnt. Und Stützen können keine biegsamen Gerten sein.“
Krack. Rutsch. Ein. Aus.
Sie schraubt ihre Ölflasche zu und streckt sich wohlig. Ich löse mich aus dem Sitzobjekt und versuche, das gleiche zu tun. Knack- und Knirschempfindungen gehen durch meinen etwa 80 Grad warmen Nacken. Ich habe eine kurze Vision von einem frisch durchgepflügten Acker.
„Geht es dir gut? In ein paar Tagen machen wir das noch mal.“
Ob sie ihn wegbekommt? Fast tut es mir ein bisschen leid. Mein schöner Lehrerhuckel.
Mai 2013