Bevor Anna Schweiger das Lehrerzimmer für ihre Stunde in der 5a verlässt, pumpt sie sich auf wie ein Maikäfer vor dem Abflug.
Konzentration. Fertigmachen zur Maximalbelastung. Materialien checken: eigene Kreide (im Klassenraum findet sie selten Kreide vor, häufiger aber, an verschiedenen Stellen verteilt, bunte Kreidemehlhäufchen), Lehrbuch, Aufzeichnungen für die Stunde, Sitzplan mit Anmerkungen zu Besonderheiten der einzelnen Kinder, CD und ein funktionierender CD-Player, den sie in der letzten Pause der Französischkollegin abgerungen hat.
Sie schaut kurz prüfend in den Spiegel neben der Tür.
Oje, denkt sie. Die Haare sehen aus wie ein Stück gerade abgemähtes Feld, über das ein Unentschlossener gerannt ist. Wahrscheinlich hat sie sich vorige Stunde in der 8b wieder die Haare gerauft, ohne es zu merken. Die Augen muss sie sich auch gewischt haben. Sie schauen sie aus dem Spiegel dunkel unterlaufen an wie die der drei Mädchen aus der Neunten, die seit Schuljahresbeginn einem neuen schwarzbetonten Stil folgen.
Es klingelt. Verdammt. Eigene Pünktlichkeit spart Vorträge. Zu spät.
“Brauchst du Hilfe?”, fragt ihr Chemie-Kollege Markus Grün von seinem Tisch herüber, nicht ohne Häme. Chemielehrer haben ihre Fachräume und müssen nie mit sperrigen Tonabspielgeräten, untransportablem Bildmaterial oder Laptops mit zentnerschwerem und hochsensiblem Beamer von Klassenraum zu Klassenraum stolpern.
Anna sortiert eilig Frisur und Makeup, wirft ihm eine Kusshand zu und eilt hinaus. Nach zwei Treppenabsätzen bleibt sie stehen. Die korrigierten Tests, die sie zurückgeben wollte, fehlen. Sie kehrt um und rennt zurück ins Lehrerzimmer, wo Markus schon steht, den Packen Tests in der Hand, den sie vor dem Spiegel fallengelassen hat.
“Ganz ruhig”, sagt er, “du machst das alles bestens.”
“Besser geht’s nicht”, antwortet sie grinsend, schon vom Treppenabsatz. Vielleicht ist er doch nicht hämisch, denkt sie. Eigentlich sogar sehr nett, für einen Chemielehrer.
Von der Klassentür der 5a rollt ihr etwas Großes, Lautes, Zappelndes entgegen. Es ist ein Knäuel von Jungen. Drei Mädchen stehen daneben und geben Tipps und Anweisungen. Zwei weitere Jungen hüpfen aufgeregt auf und ab, voll erschauernder Erleichterung, dass sie nicht mitknäueln müssen.
Anna stellt ihre Stimme auf ganz tief, aber nicht zu laut. Das hat sie in dem Stimmbildungskurs gelernt, den sie nach der letzten Kehlkopfentzündung mitgemacht hat.
“Jetzt ist Schluss”, sagt sie und versucht, nicht flehend zu klingen.
“Ihr sollt aufhören!”, piepsen die Mädchen. Die beiden Jungen hopsen weiter. Die Kampfhähne stehen schnaufend auf, richten gleichzeitig anklagend ihre Finger aufeinander und versuchen, einander in Beschuldigungen zu übertreffen. Anna scheucht sie vor sich her in den Klassenraum. Justin und Benedikt, denkt sie, immer ist es Benedikt.
Noch bevor sie den Lehrertisch erreicht hat, ist sie von einer Traube Schülern umringt wie eine vom Baum gefallene Birne von hungrigen Wespen. Als es ihr gelungen ist, die auf sie einströmenden Mitteilungen in eine Reihenfolge zu bringen, erfährt sie, dass Hannah und Darja ihre Hausaufgaben nicht machen konnten, weil die Arbeitshefte unauffindbar waren, Martha nicht wusste, was aufgegeben war, Gregor überhaupt nicht wusste, wie das ging, Paul keinen Hefter dabei hat und Otto sein Buch nicht mehr findet. Mathilde steht mit blauen Fingern vor ihr, da ihr Füller ausläuft. Acht Kinder wollen sofort ihre Note des Tests wissen. Zwei Kinder wollen die Note nicht wissen, nicht sofort und überhaupt nie. Benedikt will wissen, ob der Test unterschrieben werden muss. Jacobus nutzt seinen Platz in der ersten Reihe dazu, ihr den neuesten Witz aus seinem Witzbuch vorzulesen.
Anna versucht tief zu atmen und stellt fest, dass die Luft nur noch wenig Sauerstoff enthält. Sie öffnet das Fenster und stellt sich, so ernst sie kann, vor die Klasse.
In der letzten körperorientierten Weiterbildung hat sie gelernt, ihren Willen wortlos auf die Kinder zu übertragen. Sie konzentriert sich. Füße in Schulterbreite, Schultern locker lassen, Kinn ein wenig anheben, nicht ans Makeup denken. Jeden einmal angucken.
Es funktioniert. Die Klasse wird ruhig.
Dann gellt ein Schrei, dessen Theatralik sie an eine jener amerikanischen Serien erinnert, vor denen sie ihre Schüler immer gern warnen möchte, aber damit immer zu spät kommt. Die Kinder haben sich bereits nicht nur den Wortschatz, sondern auch das Verhalten der stets perfekt gestylten Serienhelden zu eigen gemacht, noch bevor sie sie ein Wort Englisch lehren konnte.
“Oh my God! Das ist ja E! Kel! Haft!” Ein weiterer Schrei ertönt, eine Kaskade von viel zu hoch intonierten Lauten auslösend.
Anna folgt den künstlich verängstigten Blicken. Auf der Suche nach einem Winterquartier ist eine Spinne durch das offene Fenster herein gewandert. Justin, der am Fenster sitzt, hält sie an einem Bein fest und versucht, damit so viele Mädchen wie möglich zum Schreien zu bringen. Anna spürt eine Übelkeit in sich aufsteigen, hervorgerufen von einem Übermaß an Klischees. Sie geht zu Justin, nimmt das Tier in die hohle Hand, setzt es außen auf das Fensterbrett und schließt das Fenster. Lieber an Kindermief ersticken als an kreischenden unechten Arachnophoben einen Hörsturz erleiden.
Zunächst kontrolliert sie die Hausaufgaben. Hannah, Darja, Martha, Gregor, Paul und Otto muss sie sich aufschreiben, möglicherweise gibt es da Probleme zu Hause. Benedikt hat gleich noch die nächsten beiden Aufgaben im Arbeitsheft mit gemacht, obwohl die nicht aufgegeben waren. Wie auch schon in der vorletzten Stunde.
“Das hast du gut gemacht. So viel Arbeit! Hast du dir die anderen Aufgaben aus Versehen mit aufgeschrieben? Oder hattest du einfach Lust dazu?”
Er sieht nach unten. “Na ja, ich sollte noch üben, hat mein Papa gesagt. Ich muss besser werden.”
Als nächstes gibt sie die Tests der letzten Stunde zurück. Während sie die Arbeiten zurückgibt, beginnen mehrere Kinder zu weinen.
Zum ersten Mal in dieser Stunde spürt Anna den Impuls, hinaus zu rennen und eine Zweitausbildung als Försterin oder Schrankenwärterin zu beginnen.
Sie öffnet wieder das Fenster. Dann doch lieber die Spinnen.
Warum sind Noten nur so wichtig? Müssen wir denn unbedingt Noten geben?
Ihre beruhigende Ansprache über die vielen Ausgleichsmöglichkeiten, die das Schuljahr noch bietet, und den Wert einer Zwei oder Drei trocknet einige Tränen. Darjas Augen glänzen noch wie glatter Asphalt nach dem Regen. Marie-Sophia wischt ihre feucht gewordene Drei trocken und öffnet mit einem entschiedenen Knall ihr Buch. Paul glättet seinen zerknüllten Test verstohlen unter dem Hefter. Nur Benedikt tropft still weiter auf seine Vier. Seine Banknachbarin zuckt die Schultern und gibt ihre Trostversuche auf. Anna will zu ihm gehen, aber sie muss Justin die inzwischen wieder herein gewanderte Spinne wegnehmen.
Irgendwie jongliert sie die Klasse durch den Rest der Stunde.
Die Schülertraube, die sie mitteilsam nach der Stunde umringt, kann Annas Missstimmung nicht dämpfen.
Sie paddelt in einer mulmigen Ohnmacht, einem vagen Gefühl, etwas gegen etwas tun zu müssen, ohne zu wissen, was das eine oder das andere Etwas ist.
Benedikt weint noch immer vor sich hin.
“Ich finde das blöd”, sagt Jacobus, von seinen Witzen aufblickend, in die Traube hinein, “wenn Eltern einen für eine schlechte Note bestrafen.”
“Eine Vier ist noch keine schlechte Note”, sagt Anna beschwörend so laut sie kann. Benedikt blickt nicht auf.
“Meine Eltern schimpfen da auch. Da darf ich nachmittags nicht zu meiner Freundin”, sagt Marie-Sophia, wieder mit den Tränen kämpfend.
“Aber du hast doch keine schlechte Note! Du hast eine Drei!” ruft Anna.
“Ich kriege für jede Fünf 50 Cent vom Taschengeld abgezogen. Und für jede Sechs einen Euro”, gibt Paul bekannt.
“Ich kriege für jede Eins einen Euro”, teilt Justin mit. Anna setzt sich wieder hin.
“Du hast’s gut. Ich kriege nur 50 Cent”, sagt Alois.
“Ihr mit eurem Geld. Ich finde das doof”, sagt Luise und packt ihr Englischbuch ein.
“Wieso? Da wärst du stinkreich”, stellt Wilma fest.
“Aber wenn die Eltern den ganzen Tag sauer auf dich sind, wenn du mal ‘ne schlechte Note kriegst, das ist doch auch nicht besser, oder?”, wirft Gregor ein.
Anna steht wieder auf. Sie muss in die nächste Klasse.
Das drückende Gefühl, an etwas Ungutem teilzuhaben, verlässt Anna den ganzen Vormittag nicht.
Was tut sie hier nur? Sie gibt doch ihr Bestes, jeden Tag. Manchmal sogar ihr Letztes. Und doch… Während sie im Lärm des Lehrerzimmers vor sich hin brütet, fällt ihr Blick auf die Französisch-Kollegin, und ihr fällt ein, dass sie den CD-Player in der Fünften vergessen hat. Sie eilt hinauf zum Klassenraum der 5a.
Vor der Tür trifft sie Benedikt. Als er Anna sieht, fällt ihm seine Vier wieder ein, und die Tränen beginnen wieder zu fließen.
“Willst du nicht nach Hause gehen?”
Er schweigt.
“Soll ich deinen Vater mal anrufen? Ihm sagen, dass eine Vier nicht schlimm ist?”, fragt Anna, einem Impuls folgend. Benedikt nickt. Bevor Anna es sich anders überlegen kann, hat er ihr sein Handy mit der bereits gewählten Nummer in die Hand gedrückt. Sie hält es ans Ohr.
“Was ist los, Benedikt?”, fragt eine klare, akzentuierte Stimme.
“Herr Gebhardt? Hier ist Anna Schweiger, die Englischlehrerin von Benedikt. Ich wollte nur… Ich habe heute den ersten Test zurückgegeben, er hat… eine Vier. Das ist noch keine… schlechte Note am Gymnasium. Aber er ist untröstlich. Ich wollte nur sagen… Nicht, dass zu Hause… deswegen…”
“Ach, Benedikt ist immer so ehrgeizig. Er übt und übt. Er will immer der Beste sein. Besser geht’s schon bald nicht. Es ist zum Verzweifeln.”
Als Anna dem Jungen das Handy wiedergibt, sehen sich beide kurz an. Für einen kurzen Moment leuchtet der Blitz eines Verstehens zwischen den beiden verstrubbelten Haarschöpfen, der eine über dem fast durchsichtig blassen Gesicht des Jungen, der andere über der geröteten, müden Miene der Lehrerin. Dann gehen sie auseinander.