Regressive Akzeleration

Jedes Schuljahr freue ich mich auf die Zeit zwischen Ostern und den Sommerferien.
Mit unbelehrbar sturer Vorfreude, religiösen Eiferern gleich, glaube ich daran, in dieser Zeit durch die zunehmende Helligkeit, Wärme und Abwesenheit der zwölften Klassen einen Energieüberschuss zu haben. Wenn es erst warm und hell ist, glaube ich realitätsfern, muss ich nicht mehr zu eisigen, quelläugigen Unzeiten aufstehen, kann die lauen Abende mit pädagogisch inspirierender Lektüre oder Gesellschaft am Grill verbringen und schreite insgesamt ausgeruht und heiter durch die laue Luft in die von frischen, frühlingsgestärkten Schülern gefüllten Klassen, die mein locker hingestreutes Wissen mühelos und freudig aufpicken wie die frisch angekommenen Schwalben die heiter schwirrenden Mücken.

Dann wird es April, und eine geisterhafte Erscheinung schlägt zu, die ich regressive Akzeleration nennen möchte, oder (für die Nichtsoooolateinbegeisterten, die es ja bei uns doch geben soll und die ich auch total nett finde): rückwärtsgerichtete Beschleunigung.
Regressive Akzeleration findet man überall, wenn man nur richtig hinguckt.
Sie ist zum Beispiel der Grund, warum ich nie die leckeren Schokoladenkringel an unseren Weihnachtsbaum hängen kann, die ich so liebe, weil sie mich an die aromatisch duftenden, zerkrümelten Exemplare aus den Westpaketen meiner Kindheit erinnern. Verärgert weigere ich mich den ganzen September bis November lang, in die absurden Weihnachtsregale zu greifen, und wenn ich dann im Dezember Kringel kaufen möchte, sind sie weg, denn man rüstet schon für das Osterangebot.

Gravierend ist die regressive Akzeleration in der Modewelt. Schon lange beobachte ich, wie die armen Models außer mit ihrer Magersucht auch noch mit der falschen Jahreszeit zu kämpfen haben. Kein Wunder, dass sie so gefühlsneutral gucken. Noch vor etwa zehn Jahren kam im Winter die neue Frühlingskollektion heraus. Vor etwa fünf Jahren erschien im Winter schon die neue Sommermode. Vor zwei Jahren gab es im Winter die neue Herbstkollektion, und jetzt, endlich, haben wir es geschafft! Im letzten Winter kam die neue Winterkollektion des nächsten Winters heraus! Nun bin ich gespannt auf die nächsten Jahre. Werden die Kollektionen der Jahreszeiten der übernächsten Jahre über die knochigen Gestelle der Models hinwegziehen? Ich wage nicht weiter zu denken…

Regressive Akzeleration ist auch bei unseren Schülern zu beobachten. Vor ein paar Jahren feierten Abiturienten ihren letzten Schultag. (ein Privileg, das wir nicht haben – deshalb beobachten wir es alljährlich mit mehr oder weniger schlecht verhohlenem Neid).
Sie feierten ihn am letzten Schultag.
Vor ein paar Jahren fanden sie, dass dies nicht reicht, und feierten eine ganze Woche lang, indem sie sich lustige Kostüme ausdachten und sogar anzogen.
In diesem Jahr stellte ich fest, das das Feiern bereits zwei Wochen vor dem letzten Schultag begann; entsprechend erweiterte Anforderungen stellte die Kostümierung, denen jedoch unsere Abiturienten in jeder Weise gewachsen sind.
Um sich weiteren Herausforderungen zu stellen, forderten sie die Schulgemeinde auf, ihrem Kostümierungsaufruf zu folgen. Und hier wurde eine Stimme der Zukunft wach: Eine Fünftklässlerin gab begeistert kund, sie wolle, wenn es denn so weit wäre und sie das Abi machte, einen Monat lang feiern.

Ich zweifle nicht an der Zukunftsfähigkeit dieses Vorhabens. Die Mathematiker unter uns sind sicherlich in der Lage, unter Eingabe des Beschleunigungswertes zu berechnen, in welchem Jahr die zukünftigen Abiturienten bereits in der elften Klasse beginnen, den letzten Schultag zu feiern. Den Beginn der Abschlussfeiern in der zehnten Klasse dürften sicherlich noch einige von uns miterleben; Abiturfeiern ab der fünften Klasse erleben möglicherweise nur noch diejenigen Kollegen, die eine Langlebigkeit wie das britische Königshaus haben.
Bis dahin sind aber noch andere beschleunigende Dinge zum Tragen gekommen, von denen im nächsten Teil dieser nicht enden wollenden Serie die Rede sein wird.
Bis dahin wünsche ich uns allen eine entspannte sommerliche Spätschuljahreszeit.

April 2013

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