Rede für die Gebliebenen

Rede für die Gebliebenen

Gestern sagte der liebe Mann, mit dem ich mein Leben teile und der sich täglich mein Gejammer anhört, zu mir: Hältst du eigentlich wieder eine Rede für die, die weggehen?

Nö, sagte ich.

Dann schreib doch mal eine Rede für die, die bleiben, schlug er vor.

Und das mache ich jetzt.

Liebe Bleibende, Hiergebliebene, Mitvorhandene.

Es gibt viel zu jammern:

Der Zustand der Welt im Allgemeinen. Schlimmer noch, im Besonderen.

Die alten, verrückt gewordenen Männer, die große Teile dieser Welt regieren, und schlimmer noch, die Menschen, die diese Männer wählen.

Die Umweltkrise, und schlimmer noch, die Leute, die sie ungebremst weiter verursachen. Die Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten müssen, und schlimmer noch, die Leute bei uns, die sie dafür verachten oder behandeln, als wären sie keine Menschen.

Unsere Schule. Ein Schiff, wenn ich mal diesen Vergleich bemühen darf, das kapitänslos ins Ungewisse treibt. Die Matrosen gucken bedeppert zur Kommandobrücke, wo der erste, zweite, dritte oder vierte Offizier immer mal kurz am Fenster vorbei huscht, die Augen übernächtigt, die Frisur wirr, in der Hand ein mit 3 Snickers belegtes Brötchen, in das mal der eine, mal die andere beißt.

Einige Matrosen hüpfen ins Wasser und schwimmen noch schnell zum (ebenso schwankenden) Nachbarschiff, bevor die nächste Welle kommt und das Schiff bedenklich zum Schaukeln bringt.

Einige gucken den Reingehüpften neidisch hinterher.

Einige greifen beherzt in die Segel und reffen, was zu reffen ist.

Einige klettern in den Ausguck und kommen schnell wieder runter.

Einige laufen nur noch hin und her, Teile der Takelage in der Hand, und man weiß nicht so richtig warum.

Aber: Sie bleiben. Und für die Bleibenden soll diese Rede sein.

Und jetzt Schluss mit diesem Schiffsvergleich. Denn es ist ernst. Aber nicht hoffnungslos!

Die Dagebliebenen haben etwas hinter sich. Ein Schuljahr. Das bedeutet: Der Kopf ist voll, bis er weh tut. Und der Rücken! Der Rücken…

Er ist voll von Folgendem.

Erstens. Die Schüler. Ihre Besonderheiten, ihre Befindlichkeiten, ihre Krankheiten. Ihre Unverträglichkeiten (Ist euch schon mal aufgefallen, dass kein Mensch je eine Verträglichkeit hat? Alle haben immer Unverträglichkeiten!)

Ihre bis zum Äußersten ausgelebten Besonderheiten und das, was sie für ihre Individualität halten. Ihre unterschiedlichen Fähigkeiten, denen es gilt Rechnung zu tragen.

Ihre Sorgen. Ihre ELTERN! Die Unterschiede werden nicht stärker, aber sie werden stärker ausgelebt. Und wo findet das statt?

Na bei uns – auf dem Rücken!

Zweitens. Das Abzurechnende.

Eine Riesenlast des ständigen Dokumentierenmüssens des Undokumentierbaren. Es gibt an der Schule so viel zu Erfassendes. Und auch, wenn man nicht richtig erfasst hat, muss man es dokumentieren und diese Dokumentierunga auch ordentlich erklären.

Ständig müssen wir Leistungen wahrnehmen und in Zahlen von eins bis sechs verwandeln. Wie sich mein – der Schule kritisch gegenüberstehender – Sohn ausdrückt, ist es Praxis, die Schüler mit Wissen vollzustopfen und es dann wieder häppchenweise auskotzen zu lassen. Da kann man abrechenbar seine Zahlen schreiben.

Schwerer ist es, eigene Denkleistungen zu bewerten, noch schwerer, soziales Handeln zu belohnen. Was für ein unsäglich veraltetes Bewertungssystem, überliefert über Jahrhunderte!

Aber: Es gibt ja Neuerungen! Und die sind mein Punkt 3 der Dinge, die unsere armen Köpfe füllen. Und die Rücken!

Drittens. Elektronische und digitale Neuerungen. Sie sind da, überall, und weil sie überall da sind, werden sie genutzt, und weil sie genutzt werden, braucht man sie. Und dann kann sich nicht mal mehr die Schule davor verschließen. Und wenn sie sich nicht mehr davor verschließt, bekommt sie die Aufgabe, diese Dinge zu lehren. Und weil sie das gar nicht kann, weil ihr die Grundlagen dafür fehlen, bekommt sie die Aufgabe, dann doch wenigstens zu dokumentieren, dass sie sie gelehrt hat. Und da sind wir wieder bei Punkt 2.

Aber wir Dableiber sind ja nicht von Pappe. Wir sind gestählt, flexibel und lernfähig. Wir beschäftigen uns mit dem digitalen Kram, beißen uns durch und hinein in den Digitaldschungel. Balancieren auf bisher völlig unbekannten Plattformen, hunderte Schüler im Schlepp. Lernen neues Vokabular, switchen und tweeten, networken und contacten was das Zeug hält. Hut ab vor allen, die keine Englischlehrer sind!

Kaum hat man die letzte Plattform einigermaßen verstanden, schon ist sie wieder veraltet und wird abgelöst durch eine Neuerung. Kaum hat man die erklommen, muss man noch höher – bis in die cloud.

Für die Schüler ist das nicht schwer, aber wir, wir haben die Köpfe ja noch voll von dem ganzen anderen Zeug, von dem Ballast des 19./20 Jh, aus dem die Schule gebaut ist. Den muss man erst mal hoch in die Cloud hieven!

Der Rücken!

Und jetzt noch, viertens, das Virus. Dieser winzige, brutale Kobold. Er knallt unser Leben, als wäre es nicht schon schwierig genug, mit Stolpersteinen voll:

Masken. Vorgeschriebene Wege.

Rauf, runter, Brille beschlagen.

Pipi machen, Teppe runter, Maske vergessen, Treppe wieder rauf, falscher Aufgang, Mist, jetzt kommen mir auch noch Schüler entgegen, die haben aber keine Maske auf, kann ich aber nicht meckern, bin ja selber… , Frau Müller, sie sind aber hier krass falsch unterwegs, und so weiter.

Das Virus nimmt uns die Klassenfahrten. Belädt unseren armen Rücken statt dessen mir haufenweise Stornierungskram.

Hmmm….

Hand aufs Herz. Sind wir da wirklich sooo traurig…?

Das Virus führt uns vor, was wir ohne es schon längst hätten sehen sollen, wenn wir nicht so erschöpft gewesen wären, zu erschöpft, um den Grund unserer Erschöpfung zu finden.

Er zeigt uns, dass wir unser Essen aus entsetzlichen Schlachthöfen holen, die Mensch und Tier verachten.

Es holt die Alten und ihre Betreuer aus dem toten Winkel, in den wir sie gesteckt haben.

Es zeigt uns, wieviel Unsinn wir treiben mit unserem Hin- und Hergefliege, mit unserem oft sinnlosen Herumfahren. Es stellt gar die Grundfesten der Marktwirtschaft in Frage: Brauchen wir ein ständiges Wachstum?

Uns zeigt es, wie viel Platz ein Schüler braucht, um gut lernen zu können, nämlich MEHR als ein Dreißigstel eines Klassenraums. Und dass man Computer und Handys tatsächlich fürs Lernen nutzen kann und nicht nur, um unseren Unterricht zu stören und ihm zu entfliehen.

Er zeigt uns völlig neue Naturgesetze. Zum Beispiel, wie sich jede Klasse auf seltsam natürliche Weise in zwei unterschiedlich geartete Lerngruppen teilt. Es ist immer eine, nennen wir sie mal eher körperlich aktive Gruppe und eine eher geistig arbeitende Gruppe. Wie dieses Phänomen zustande kommt, könnten Corona-Forscher einmal erforschen, statt uns immer abwechselnd mitzuteilen, dass es bald einen Impfstoff geben wird oder nie einen geben wird.

Vielleicht zeigt uns der Kobold Corona sogar, dass es möglich und sogar sinnvoll ist zu reduzieren: die Klassenstärke, den Druck, den wir ausüben, gar die Menge der Präsenzstunden?

Und vielleicht passiert uns überhaupt nichts Schlimmes dabei? Vielleicht müssen wir gar nicht in die Mühle zurück, zumindest nicht zwischen die Steine? Vielleicht dürfen wir auf Qualität achten statt auf Quantität? Vielleicht lernen wir was?

Denn: wir sind ja in einer Schule. Wir sind ja dageblieben. Wie ich schon am Anfang sagte. Und wenn es uns gelingt, ein Stückchen zurück zu treten und das, was wir haben, mit etwas Abstand zu betrachten, finden wir:

Ein wunderschönes Schulgebäude an einer top location.

Ein super W-LAN, das schon seit Wochen verlässlich meinen Unterricht bereichert.

Eine auf individuelle Betreuung bestehende, aber insgesamt gutartige und zum großen Teil am Leben interessierte Schülerschaft.

Und das Beste:

Ein etwas lädiertes, an Erfahrung enorm gereiftes Kollegium, das aus Individuen von einer kaum zu beschreibenden Originalität besteht. Eine über-vierzigfache Quelle der Inspiration.

Außerdem:

Keine Musikstunde mehr wird plötzlich zu vertreten sein.

Milch und Essen, das für alle gedacht war, verschwindet nicht mehr spurlos.

Es gibt keine langen Briefe, die unsere Unzulänglichkeiten und Verfehlungen zum Inhalt haben.

Kurz und gut: Eine neue personelle Situation, die einen Neuanfang und Aufbruch einer solchen Art ermöglicht, wie wir ihn seit dem Herbst 1989 nicht mehr erlebt haben.

Alles, was wir brauchen, ist etwas Erholung, dann etwas Mut, Phantasie, ein paar mehr Kollegen pro Schüler und einen brauchbaren IT-Experten. Und dann geht es auf ins Neue!

Denn wir sind ja da.

Frohe Ferien!

Juli 2020

Schreibe einen Kommentar