Das Schuljahr neigt sich seinem Ende, tiefer und tiefer neigt es sich wie ein an Morbus Bechterew Erkrankter.
Exkursionen aller Art bilden Epidemien.
Die Abspielgeräte der audiovisuellen Medien, von besonders vorausschauenden Kollegen schon vor Wochen reserviert, kennen keine Ruhepause mehr.
Aus der Küche kommen stündlich neue Gerüche, landeskundliche sinnesübergreifende Lernergebnisse verheißend.
Kollegen sprechen vom Minusbereich ihrer Energiereserven und sehen auch so aus.
Schüler nicht.
Man sieht entnervte Kollegen leise fluchend Tabellenhaftes in Klassenbücher krakeln, heimlich von einer Privatsekretärin träumend.
Manche Kollegen werden von ihrem eigenen Stundenplan überrascht.
Vor datenhungrigen Computern bilden sich Schlangen. Ich erwische nur noch den einen, dessen besonders kurze Mausstrippe dem Benutzer einen rechten Arm von gorillaartiger Länge abverlangt. Nach der Eingabe aller Zensuren brauche ich einen rechtsseitigen Physiotherapeuten.
Kurz, es ist die Zeit, die manchen Menschen den Drang verleiht, Bilanz zu ziehen.
„Was habt ihr denn in diesem Schuljahr gelernt?“, schleudere ich den verblüfften Schülern gnaden- und zusammenhanglos entgegen, als sie aufgrund der Schuljahresendsituation Speiseeis für alle verlangen. Sie gucken misstrauisch und wittern eine Falle.
Auf die eigentlich naheliegende Gegenfrage kommen sie nicht. Die Frage, die mich seit einer Weile bewegt: Was haben Sie denn gelernt in diesem Schuljahr? Oder, gemeiner gesagt: Lehren Sie noch oder lernen Sie schon?
Ja, ihr Schüler, auch wenn es euch wurst ist (und das ist euer Recht): Ich will hier auch was lernen. Und wenn ich das nicht mehr kann, wird es Zeit, auf einen Ökohof zu ziehen und von nun an die Grundnahrungsmittel der Bildungsbürgerschicht zu produzieren.
Um das noch ein wenig hinauszuschieben, hier eine Liste des in diesem Jahr von mir Gelernten.
1. Das Maß meiner Vorbereitung auf eine Stunde hat mit dem Erfolg und Gelingen dieser Stunde etwa so viel zu tun wie die Rehabilitierung der australischen Aborigines mit dem Wettergeschehen in Mitteleuropa. Es gibt da sicher einen Zusammenhang. Ich weiß aber nicht, welchen.
2. Ich kann meinen Schreibtisch nicht aufräumen. Nur immer bis zum Geht-gerade-noch-Stadium. Mir fehlen dazu die psychischen Voraussetzungen.
3. Ich bin nicht die einzige mit dieser Behinderung. Manche haben das noch schlimmer.
4. Ich kann gegenüber Schülern mit ähnlichen Behinderungen Verständnis entwickeln.
5. Dieses Verständnis hilft weder mir noch ihnen.
6. Problembehaftete Eltern-E-Mails gehen nicht immer auf meine Fehler zurück. Es gibt noch andere Unheilquellen als meinen Unterricht.
7. Aus einer Horde Persönlichkeiten mit multiplen Verhaltensbesonderheiten kann innerhalb nur eines Jahres eine Gruppe interessanter, aufgeschlossener Menschen werden. Jedenfalls im jugendlichen Alter.
8. Ich bin mir sicherer geworden in dem Verdacht, dass die Dieser-Schüler-gehört-nicht-hierher-Herangehensweise unseres Schulsystems veraltet, hilflos und dumm ist.
9. Trotzdem haben es manche besonders schwer am Gymnasium.
10. Widersprüche gehören zur Schule.
Ferner habe ich gelernt, meine Teetasse immer in die Spülmaschine zu stellen. Das lässt mich auch zu Punkt 1 noch weiter hoffend neugierig bleiben.
Ich hoffe, auch ihr bleibt neugierig. Und – was habt ihr denn so gelernt im letzten Schuljahr?
Juli 2013