Chaos and confusion. Zur Fastenzeit

  • Beitrags-Kategorie:Die Klappstunde
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Ehe man sichs versieht, ist Fastenzeit. Mit Pauken und Trompeten hat man sich von den fleischlichen Freuden verabschiedet, hat gefeiert bis zum Umfallen, sich maskiert, betrunken und vollkommen Fremde grundlos sympathisch gefunden und geküsst. Man hat Helau! gerufen bis zur Heiserkeit und sich die seltsamsten Sachen auf den Kopf gesetzt und ins Gesicht gemalt. Und dann ist alles vorbei, und es ist Fastenzeit.

Ach nein, falsche Zeit. Das war ja früher. Dieses Jahr ist es anders. Das mit dem Küssen und den wilden Parties war gar nicht. Und die Masken – die haben wir immer noch auf. Wir gucken oben drüber und können mit dem Unterteil des Gesichts weiterhin schöne Fratzen machen und Gesichter schneiden, obwohl Fasching schon vorbei ist.

Trotz allem ist Fastenzeit. Die Zeit des schwindenden Winters. Die Zeit der Einkehr, in der man in sich geht und den Wert der Dinge erkennt, indem man sie für eine Weile entbehrt.

Aber das machen wir ja schon! Seit Wochen und Monaten fasten wir Kontakte. Wir fasten Parties, Freundetreffen, Shopping, Cafes, Kino, Theater und Haareschneiden. Wir fasten gar Klassenarbeitenschreiben! Wir haben uns verwandelt in haarig überwucherte kulturlose Einzelgänger mit bleichen Gesichtern, die den ganzen Tag chipsverkrümelt und schokoladenverklebt im Schlafanzug vor dem Bildschirm hocken, nicht enden wollende Serien gucken oder virtuelle Gegner in unwirklichen Landschaften totballern.

Was sollen wir da noch fasten?

Zucker. Süßigkeiten. Der Fasten-Klassiker. Wer das in dieser Zeit schafft, in der die Schokolade unser kleiner Tröster geworden ist, der oder die ist wirklich stark.

Fleisch. Na klar. Ein Blick in die Medien zeigt uns, unter welchen Bedingungen die Wurst auf unserem Tisch zustande gekommen ist. Wer das mit klarem Auge sieht, fastet unbedingt alles, was von Tierquälern hergestellt wurde.

Der BUND hat zum Plastikfasten aufgerufen. Mal sieben Wochen lang nichts kaufen, was in Plastik verpackt wurde. Eine echte Challenge! (Der Unverpackt-Laden in Erfurt hat übrigens einen Hilferuf losgelassen, durch die aktuelle Situation bangt er um seine Existenz.)

Alkohol kann man auch fasten. Den Sanitäter in der Not, den Fallschirm und das Rettungsboot, wie Grönemeyer singt. Auch eine Möglichkeit. Der Sucht vorbeugen.

Und einer anderen Sucht gilt es vorzubeugen. Computerspiele. Diese wunderbaren Freunde, die Helfer in der Einsamkeit, die Vermittler virtueller Spielkameraden, die immer genau die richtige Challenge finden für mich, und dann die nächste, und wieder die nächste, und wieder und wieder, bis das Belohnungszentrum im Kopf vibriert und wir unter Strom stehen und immer nur noch eins mehr wollen.

Und auch woanders kann man sich verlieren. Die sozialen Medien. Sie rufen nach mir, immer kriege ich Nachrichten, die mir beweisen, wie wichtig ich bin, und die muss ich schnell beantworten, denn sonst denken ja die anderen, ich bin nicht mehr da oder nicht mehr wichtig, und schicken mir weitere Nachrichten, und die muss ich schnell beantworten, und so weiter.

Deshalb habe ich mir etwas Hochambitioniertes vorgenommen, etwas, das mein Leben sieben Wochen lang auf den Kopf stellen wird: Ich faste chaos and confusion. Das ist englisch für: ein großes Durcheinander.

Das wird hart.

Ich muss meinen Schreibtisch aufräumen und für all die Sachen, die ich schon ewig machen wollte, aber wahrscheinlich nie machen werde, wenn mich nicht jemand mit dem Tode bedroht, einen Platz finden. Ich muss vielleicht die ganze Wohnung aufräumen, denn solche Sachen liegen überall herum.

Wenn ich mich für meine Schularbeiten an den Computer setze, werde ich jetzt nicht mehr noch zehn andere Fenster aufmachen, um zwischen denen hin und her zu switchen.

Wenn mir während des Arbeitens irgend etwas einfällt, google ich nicht mehr sofort und verliere mich dann in den Weiten des Internets, sondern ich mache mir eine Notiz und google später. Oder gar nicht.

Wenn ich den Computer anschalte und es in meinem Kopf einen Stau gibt, weil etwa dreizehn verschiedene Aufgaben erledigt werden wollen, hole ich mir nicht noch eine Tafel Schokolade, um mich zu trösten und damit die Tastatur zu verschmieren. Ich mache auch nicht erstmal die Nachrichtenseite und alle meine sozialen Netzwerke auf, um chaos and confusion noch zu vergrößern.

Statt dessen will ich bei drohendem chaos and confusion Folgendes tun: Ich schließe die Augen und stelle mir eine Zwergdeckelschnecke vor, die sind nämlich ganz besondere Tiere, ihr müsst die mal googeln, aber nicht jetzt. Ein Eisvogel geht auch. Das sind ganz zauberhafte Wesen, sie leben wirklich bei uns, aber man kann sie kaum sehen, denn sie sind super scheu und fliegen immer weg, sobald jemand guckt. Unglaublich schön blau leuchtende Blitze sieht man dann. Ich schweife schon wieder ab, und ihr könnt sehen, warum ich mir das mit dem Chaos vorgenommen habe.

Und dann verlangsame ich das Tempo und fange mit einer Aufgabe an. Und dann mache ich die nächste Aufgabe. Und dann schreibe ich die Mails. Und dann darf ich mal in die sozialen Netzwerke gucken. Und dann mache ich Pause.

Bei euch ist es sicherlich bestimmt ganz anders.

Ihr seid super organisiert und habt einen Zeitplan für alle eure Aufgaben, die ihr macht, und den haltet ihr ein, ohne jede Ablenkung.

Ihr wollt vielleicht Gummibärchen fasten, weil die euch eh nicht schmecken, oder ihr wollt In-sozialen-Netzwerken-gemein-über-andere-Reden fasten.

Ihr seid insgesamt viel besser organisiert, und chaos and confusion ist ein Fremdwort für euch. Oder zwei.

Vielleicht braucht ihr nichts zu fasten, denn ihr wisst die vielen guten Dinge, die wir haben, zu schätzen: Genug zu essen. Menschen, die uns lieb sind. Schnee und Sonnenschein und frische Luft. Gesundheit. Und irgendwann wieder: Konzerte. Theater. Kino. Bibliotheken. Sportstätten. Schule!

Bis es so weit ist, muss ich mich jeden Tag an dieses gefährliche, weil so unglaublich vielseitige Gerät, den Computer, setzen. Und ich will stärker werden als alle Verlockungen, die von ihm ausgehen. Jedenfalls meistens.

Deshalb faste ich jetzt erst einmal.

Chaos and confusion.

Februar 2021