Betritt ein Besucher an einem gewöhnlichen Tag unsere Schule, sieht er folgendes:
Schüler schlappen, tief gebeugt unter der Last stetig neu sich verbessernder und an Gewicht gewinnender Schulbücher, die Treppen hinauf und hinunter, gezeichnet von der Furcht vor drohenden Tests und Klassenarbeiten, der Unruhe über zu Unrecht erhaltene Zensuren und Unsicherheiten über den Sitz des neuen Outfits oder des neuen Make-ups.
Noch gebückter eilen Sprach- und andere klassenraumlose Lehrer unter der Last ihrer sich stetig verbessernden Unterrichtsmaterialien und raffinierter didaktischer Motivierungsutensilien durchs Haus.
Sportlehrer federn eilig zum Bioraum.
Chemie- und Physiklehrer bleiben, wo sie sind.
Die stellvertretende Direktorin eilt suchenden Auges herum, entschieden die Sorge über die frisch Erkrankten aus ihrem Blick herauslächelnd.
Vor und in den Räumen der kleineren Klassen findet der nie enden wollende Kampf um den Platz des Alphamännchens statt. Unermüdliche, der Verzweiflung trotzende Lehrer üben sich in der Technik, diesen Naturgewalten eine der Zivilisation angemessene Form zu verleihen.
Betritt der ahnungslose Besucher in einer großen Pause den kleinen Schulhof, wird er Zeuge eines Wunders. Es geschehen Dinge, die nach den Gesetzen der Physik nicht möglich sind: die gleichzeitige chaotische Bewegung von ca. 200 menschlichen oder in der Menschwerdung begriffenen Körpern in einer Geschwindigkeit von ca. 20 km/h auf einem Platz, auf dem jedem etwa ein Quadratmeter zur Verfügung steht, bei gleichzeitigem Herumfliegen von ca. 10 Geschossen unterschiedlichster Beschaffenheit finden nur ca. 12 Kollisionen pro Minute statt, und davon sind 11 beabsichtigt.
Möglicherweise, so denkt sich der Besucher, während er sich verängstigt und ertaubend an die meterhohe Mauer drückt, ist dies ein hochinteressantes wissenschaftliches Experiment.
Flieht er nach innen, wird er Zeuge einer Art Versteckspiel zwischen flinken Schulhofvermeidern und Lehrern, die, je nach Temperament und Fachrichtung, kurze Befehle bellen, engagiert argumentieren oder stumm scheuchende Gesten vollführen.
Das Haus riecht nach Mühe, Arbeit und dem Kampf gegen eine Unzahl innerer Schweinehunde.
Betritt der selbe Besucher, bewegt von dem, was er gesehen hat, noch einmal die Schule zu einem anderen Zeitpunkt, ist es möglich, dass er verwirrt davoneilt, um einen Arzt zu konsultieren, nachdem er noch einmal das Schild an der Tür überprüft, sich gekniffen und verstohlen in einen Spiegel geblickt hat.
Denn es scheint nicht der selbe Ort zu sein.
Es ist Projektwoche. Alles ist anders. Entspannt dreinschauende Schüler, sich sowohl ihres Make-ups als auch ihrer Talente sicher, gehen sicheren Schrittes zielbewusst auf Klassenräume zu, aus denen in angenehmer Lautstärke Geräusche zufriedener Kreativität dringen. Mit großer Wichtigkeit gehen Filmteams umher. Gewerke aller Art sind zugange. Bärenstarke Kerle dekorieren eine Torte mit rosa Marzipanverzierungen. Kleine Schüler tun widerspruchslos, was ihnen große Schüler sagen. Es riecht nach frischer Farbe und freudigem Tun. In der Chemieetage riecht es nach Harnstoff. Auch darauf sind die Schüler stolz.
Der Besucher reibt sich die Augen, denn wie eine Fata Morgana ist eine Cafeteria entstanden, eine Oase aus Stoffdrapierungen, Kaffeeduft und einer Vielzahl stolz herumstehender Bardamen. Darin sitzen in individuellen Pausen Lehrer, entspannt des Hinausscheuchens enthoben, und ebenso entspannte ungescheuchte Schüler.
Natürlich ist dies eine einseitig bis zur Unkenntlichkeit verzerrte, in gröbster Weise naive Darstellung der Dinge, und amerikanische Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Frontalunterricht der effektivste Unterricht ist, und weißt du eigentlich, wie viel Zeit und Kraft ich mit Vor- und Nachbereitung in diese Woche investiert habe, von den Finanzen mal ganz zu schweigen, und für den Lehrplan bringt das Ganze natürlich nichts, das ist klar, und…
Und trotzdem…
Oder?
Februar 2014