Wisst ihr noch? So war es, als Corona bei uns wütete.
Nee, das kann doch nicht wahr gewesen sein.
Doch! Noch keine zwei Jahre ist es her. Beim Stöbern in meinen Texten fand ich diesen Text, den ich im Januar 2022 für die Klappstunde geschrieben habe. Viel Freude beim Erinnern an jene Zeit! Prost Neujahr!
Bilanz und Neuanfang
Ein altes Jahr ist zu Ende gegangen, allerorten wird der Ruf nach dem Bilanzziehen laut. Ziehen wir Bilanz!, tönt es aus allen Sendern und Senderinnen heraus.
Ich möchte eigentlich gar nicht Bilanz ziehen. Können wir nicht einmal etwas anderes ziehen als Bilanz?
Ziehen würde ich zum Beispiel lieber einen Schlitten. Und dann volle Kanone runterwärts an den anderen vorbei.
Aber. Kein Schnee.
Noch lieber würde ich an einem dieser langen Bärte ziehen, wie sie in (meist religiös) geschützten Räumen aus der Mitte oder dem unteren Ende von Gesichtern sprießen.
Was ich noch gern ziehen würde, ist ein Strich. Unter die ganze Isolierungspraxis der Coronazeit. Oder unter manche Beziehung.
Ich würde gern neue Saiten auf-, mein Konto über- oder einfach weg-, mich ver-, um- und losziehen.
Aber es nützt nichts, ich muss weiter er-ziehen. Anderer Leute Kinder. Irgendjemand muss das ja machen.
Wenn man denen die Handys verbietet (was wir ja, rein theoretisch, in jeder Unterrichtsstunde versuchen), wachen sie auf, und manche entdecken, dass sie auch noch andere Körperteile als Daumen haben. Völlig verwirrt beginnen sie sich zu bewegen und schmeißen etwas um. Zum Beispiel mein Weltbild.
Es begann mit einer beispiellos ratternd vorgetragenen Rede unseres Kultusministers. In einem seiner heldenhaften Versuche, sich der Realität anzunähern, hatte dieser in einer Erklärung versucht, zwei Dinge gleichzeitig zu vollbringen: Einerseits wollte er die schwierige Situation der Schüler und Lehrer würdigen, andererseits wollte er ihnen keine Hilfe (z.B. in Form von geteilten Klassen oder vorgezogenen Ferien) anbieten.
Er tat mir ein bisschen leid, der Minister, wie er nicht wusste, welchen Gesichtsausdruck er verwenden sollte, und sich für die Zero-Variante entschied, die mich an die maskengleich vorgetragene Weihnachtsrede der Queen erinnerte.
Daraufhin preschte unser Bürgermeister vor, den Unmut des lernenden und lehrenden Volkes witternd, und drohte mit einem Katastrophenfall, der ihn zu eigenen Maßnahmen zur Ferienstellung der letzten drei Schultage ermächtigen würde.
Der Maskenminister reagierte mit einer ausgebufften Finte: er stellte die Teilnahme am Unterricht für die besagten drei Tage in die Verantwortung der Eltern.
Bei uns Lehrenden rief diese Entscheidung unterschiedliche Reaktionen hervor; Einigkeit herrschte nur im Schimpfen.
Manche erlagen ihrer Erkältung.
Andere holten ihre DVD-Sammlung hervor und sicherten sich die Räume, in denen der Beamer funktioniert.
Wieder andere schrieben E-Mails an alle Schüler, die noch Tests schreiben mussten.
Unsere Schulleitung reagierte gelassen und praxisnah. Um Lehrerressourcen zu schonen, erfragte sie die Teilnahme der Schüler am Unterricht für die besagten drei Tage. Man musste ja nicht zu fünfzigst drei Schüler beschulen.
Und dann geschah das, was mein Weltbild in den Neubildungsmodus versetzte.
Die Schüler blieben nicht zu Hause. Sie kamen. In die Schule. In großen Mengen. Als müssten sie sonst in den Sturzfluten häuslicher Fürchterlichkeiten ertrinken und wir wären das rettende Schiff, so kamen sie.
Ich fühlte mich wie Noah.
Ich konnte einfach Unterricht machen, aber nicht ganz normalen Unterricht, sondern Unterricht für Schüler, die aus freien Stücken in die Schule kommen. Herrlich!
Aber warum kamen sie?
Wegen der Wärme in den Klassenräumen wahrscheinlich eher nicht.
Die ewig Negativen unter uns sagen natürlich: Sie sind von ihren Eltern geschickt worden, die waren froh, dass sie ihre Brut noch drei Tage los waren. Oder die Schüler wollten sich nicht den Stress antun, den ganzen Stoff nachzuholen und Tests nachzuschreiben. Oder sie brauchten einen Platz, wo sie ungestört auf ihren Smartphones spielen können.
Ich glaube das nicht. Ich glaube, die kamen, weil sie bei uns was lernen wollen. Weil es schön ist, mit den anderen, mit uns.
Eine andere Sache waren die Zwölftklässler. Die machten sich ihre Stundenpläne selbst zurecht. Diese Stundenpläne kann man als Botschaften ansehen. Manche begannen um neun, manche um zwölf. Manche ließen bestimmte Fächer weg, kamen aber zu anderen. Es ist an uns, diese Botschaften zu lesen.
Seit diesen drei wundersamen Tagen hat das Jahr gewechselt. Und auch der ratternde Kultusminister war nicht faul. Inzwischen hat er uns einen Ferientag beschert, den Wechsel zum Distanzunterricht angeordnet, dann, bevor dieser stattfinden konnte, den Wechsel zum Distanzunterricht wieder zurückgenommen und, als besonders gewiefte List, alle Entscheidungen denen überlassen, die überhaupt keine Informationen haben, um sie zu treffen.
Unsere Schulleitung reagierte wieder so wie oben. Gelassen und praxisnah. Gut dass wir sie haben.
Das können wir schon mal als Bilanz – und dann, mit frischer Kraft, einem Blick fürs Positive und ausreichend Humor, ins neue Jahr ziehen!
Januar 2022
Herrlich schön zu lesen 🙂 Danke für den Einblick.