Frank und frei

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Als Anna in den dunkelmetallicgrünen Renault blickte, wurde ihr klar, dass sie hier nicht hinten sitzen konnte. Die Rückbank war mit allerlei Beuteln und Tüten vollgestellt und von einer Vielzahl Krümeln überzogen.

In der Mitte der Krümel lag ein struppiger kleiner Hund undefinierter Farbe und Rasse, der bei ihrem Anblick kurz sein linkes Auge öffnete, mit den darüber befindlichen sehr langen Augenbrauenhaaren wippte und das Auge wieder schloss. Der Hund muss sehr alt sein, dachte Anna, schließlich bin ich im Begriff, in sein Territorium einzudringen. Unser Hund hätte hier schon einen riesigen Rabatz gemacht.

Eigentlich saß Anna auf diesen langen Fahrten mit einer Mitfahrgelegenheit lieber hinten. Man musste nichts sagen, konnte das Reden denen vorn überlassen und noch ein wenig von Tommy träumen. Tränen stiegen ihr wieder in die Augen, als sie an den Abschied dachte. Nein, lieber nicht.

Sie öffnete die etwas eingedellte Beifahrertür.

“Anna?”, fragte der Fahrer. Es war einer dieser Männer, die sich nicht zwischen einem Bart und keinem Bart entscheiden konnten, oder vielleicht war er schon so lange unterwegs wie sie. Über seiner braun und grau gescheckten unteren Gesichtshälfte schauten sie ein Paar graue Augen aus einem Kranz freundlicher Fältchen an. Er hatte seine Sonnenbrille in seine durch den zurückgehenden Haaransatz sehr hohe Stirn geschoben. OK, dachte Anna, wenigstens kein Gefährlicher. Gefährliche lassen ihre Sonnenbrille auf. Wahrscheinlich ein Reder. Den Hund hat er schon müde geredet.

“Ich bin Frank.”

“Hi.”

“Du kannst deine Tasche auf den Rücksitz legen.”

Anna öffnete die hintere Tür. Der Hund hob seinen Kopf und ließ ihn dann wieder sinken. Frank war inzwischen ausgestiegen und hatte die andere hintere Tür geöffnet.

“Genosse, rutsch mal ein Stück”, sagte er.

Anna sah sich verwundert um. Meinte er sie? War er eine besondere Art von Altkommunist, die sogar die weiblichen Endungen verweigern? Gab es die noch?

Der Hund erhob sich langsam, wurde von Frank ein Stück weiter geschoben und ließ sich wieder auf die haarige Rückbank fallen.

“Genosse…?”, fragte Anna durch das Auto hindurch. Der Hund hob wieder den Kopf. Sein Schwanz begann gegen die Lehne der Rückbank zu klopfen und Krümel herumzuwirbeln.

“So heißt der Hund. Eine Idee von damals, als das noch ein Sakrileg war. Passt die Tasche jetzt rein?”

“Schon OK.”

“Du kannst das Fenster runterleiern, wenn du willst”, sagte Frank, als sie losgefahren waren.

Nach dem langen beengten Sitzen in den Bussen, die sie bis hierher gebracht hatten, fühlte sich der Sitz komfortabel an. Anna streckte ihre langen Beine in der inzwischen schmuddlig gewordenen Jeans aus, fand die Fensterkurbel mit dem fehlenden Plastikgriff und öffnete das Fenster. Der Wind fuhr in ihre lockigen Haare, die sich jedesmal auf der Reise wieder verfilzten. Mit einer raschen Bewegung holte sie ihren Haargummi aus der Tasche und band sie zusammen.

“Schon eine komische Sache, diese Mitfahrgelegenheiten per Internet”, stellte Frank fest. “Früher stellte man sich einfach an die Straße, ohne Geld, ohne alles, und ab ging die Post.”

“Hm.”

“Aber heute findest du kaum einen Tramper mehr auf der Straße. Wenn du dein Auto auslasten willst, musst du entweder alle deine Tanten und Verwandten mitnehmen oder das Internet benutzen.”

“Ist doch praktisch”, warf Anna ein. Wenn sie die ganze Strecke hätte trampen müssen… Von der Rückfahrt ganz zu schweigen, mit all dem Gepäck…

“Ja, ihr seid es nicht anders gewohnt.” Frank schob die Sonnenbrille wieder herunter, die noch auf seiner Stirn gesessen hatte.

“Leicht ist alles geworden heutzutage, seit wir der Westen geworden sind.”

“Leicht…?”

Während er die Kurve der Autobahnauffahrt zur Beschleunigung nutzte und sowohl Anna als auch Genosse an die Seite gedrückt wurden, wies Frank mit einer ebenso vagen wie ausholenden Geste auf die vorbei gleitenden Straßenschilder.

“Wo fahren wir hin? Köln, München, Frankfurt? Wo auch immer du hin willst, du setzt dich ins Auto – in deins oder in das von jemand anderem – und fährst los. Nach Norden, Süden, Westen -”

Nach Westen, dachte Anna, immer nach Westen.

“Egal wo du hin willst, du fährst einfach hin.”

Mit einer ruckartigen Bewegung legte Frank den letzten Gang ein, den das Auto hergab, und beschleunigte noch etwas. Der Motor pegelte sich auf ein Dauerheulen ein.

“Die meisten in eurem Alter wissen nicht, wie das einmal war. Und die in meinem Alter sind eifrig bemüht, es zu vergessen. Etwa hier”, er wies auf die vorbei rasende Landschaft, “war die Welt zu Ende. Für uns. Da, dieser kahle Streifen, das war der Todesstreifen, und da,” er nahm für einen kurzen Moment den Fuß vom Gaspedal, “ da, da! siehst du? Ein alter Wachturm.”

Sie fuhren ein paar Minuten schweigend. Genosse begann leise zu schnarchen.

“Ein alter Hund?”, fragte Anna.

“Fast so alt wie du”, antwortete Frank und fügte schnell hinzu: “ Nehme ich an. Er ist 16.”

“Oh. Sehr alt. Als Hund.”

“Ja. Als ich so alt war… Mann oh Mann. Freiheit war alles, was ich wollte. Ich war besessen davon. Ich wollte in einem Auto sitzen, in einem richtigen, nicht in einem Trabbi oder Wartburg. Ich wollte die Welt sehen. Bin immer nur bis hierher gekommen. Hier war sie zu Ende, verdammt noch mal!”

War sie nicht, dachte Anna. Sie ging in der anderen Richtung, nach Osten, weiter. Und das tut sie immer noch.

“Sie haben mich eingelocht. Weil ich rüber wollte in die Freiheit. Weil ich ein paar Gedanken geäußert habe, zu den falschen Leuten, Gedanken, die jeder gedacht hat. Weil ich ein paar Bücher besessen habe, die wir nicht lesen sollten. Das kannst du dir wahrscheinlich nicht mal vorstellen.”

Das Schnarchen vom Rücksitz wurde etwas lauter. Anna begann, sich schläfrig zu fühlen. Die letzte Nacht im Bus war nicht zum Schlafen angetan gewesen. Durch die Schlitze ihrer zufallenden Augen sah sie die Schilder mit den Namen der Städte auf sich zu kommen und vorbeisausen wie Angebotsschilder: Köln, München, Frankfurt. Eines dieser Angebote hatte sie her gelockt. Wie immer, wenn ihre Augen zufielen, sah sie Tommy vor sich…

Mit einem Ruck riss sie die Augen auf und richtete sich auf. Pforzheim stand auf dem Schild.

“Pforzheim”, sagte Frank in fast anklagendem Ton, als hätte Anna sich einen solchen Namen ausgedacht und die Bewohner der Stadt gezwungen, ihn auf ihre Ortsschilder zu malen, in ihre Personalausweise zu schreiben und auf ihre Adressklebezettel zu drucken.

“Darmstadt. Essen. Was für Namen”, fügte er hinzu, nun immer verärgerter werdend.

“Düsseldorf! Ich wollte tatsächlich wissen, ob es diese Orte gibt oder ob sie sich nicht nur ein böswilliger und ungewohnt phantasievoller Propagandaoffizier ausgedacht hatte.”

Anna sah verstohlen zu ihm hinüber.

“Namen”, fuhr er fort, “waren für mich so wichtig. Die Namen der Orte. Orte der Freiheit. Westdeutschland war für mich ein Land der vielversprechenden Namen. Sie klangen alle so stark, ehern, MÄNNLICH, die Städte der Freiheit. Mannheim! Karlsruhe! Kaiserslautern, Ludwigsburg oder gar Ludwigslust! Frankfurt! Nicht an der labbrigen entschlusslosen Oder, sondern am Main! Der Main! Der Rhein! Selbst männliche Flüsse gab es dort! Und Städte, die klangen wie ein kurzer, entschiedener Schlag. Bonn! Hamm! Köln. Trier. Kiel.”

“Oh.”

“Oder Städtenamen, die konnte man nur vornehm aussprechen. Als würde man in dort nur in hohen Kreisen verkehren. München”, er stülpte seine Lippen vor und zog die Augenbrauen nach oben. Anna sah ihn ungläubig an.

“Und dann”, fuhr er ungerührt fort, “gab es noch Städte mit vollkommen unverständlichen Namen, solche, bei denen ich mich immer fragte, was können die wohl bedeuten, wie kommen die zu so was? Zum Beispiel Calw, mit C und W, oder Castrop-Rauxel. Mönchengladbach. Nürnberg-Feucht. Das kann doch nicht ihr Ernst sein, dachte ich.”

“Und deshalb bist du…?”

“Freiburg!”, rief Frank aus, und Genosse schreckte mit einem schnurfelnden Laut hoch und legte die Ohren an.

“Ja, verdammt, ich wollte da hin! Sogar nach Castrop-Rauxel. Und jetzt ist das alles offen für euch, und keiner weiß mehr, was es eigentlich bedeutet, frei zu sein. Meine Tochter, die fährt fortwährend weiß der Kuckuck wo herum, au pair in England, soziales Jahr in Brasilien, Auslandsstudium in Frankreich. In den Ferien mal schnell nach Spanien oder in die USA.”

Aber niemals in den Osten, dachte Anna und sagte: “Deine Tochter hat es gut.”

“Ja, so wie eure ganze Generation. Die Welt steht euch offen.”

Nach einer Pause fragte Anna: “Vermisst du deine Tochter?”

“Das hab ich mal. Als sie weggezogen sind von mir, Katrin und die Kinder. Jetzt nicht mehr so. Die Tochter ist meistens unterwegs. Der Junge… Der nutzt seine Freiheit im Internet. Trifft dort seine vielen ‘Freunde’…”

Um die Anführungszeichen zu markieren, wedelte Frank in der Luft herum, und das Auto machte einen bedenklichen Bogen zur Seite.

“Wenn er nur wüsste, was diese Freiheit wert ist… Er sitzt den ganzen Tag vor dem Ding. Er sieht die ganze Welt nur im Computer. Er WILL überhaupt nicht hinaus, er will sich nichts ansehen, er will nichts weiter, als er sowieso schon hat… Er hat alles… Wenn ich ihn sehen will, muss ich online gehen und ihn dann aus dem Bildschirm heraus angucken. Wenn ihr nur wüsstet, was diese Freiheit wert ist… ”

Anna stellte keine weiteren Fragen, um weitere gefährliche Anführungszeichen zu vermeiden, und so wurden die nächsten Kilometer schweigend verbracht.

Nach einer Weile begann Genosse leise zu winseln, und sie hielten an einer Raststätte an. Der Hund sprang mit ältlicher Eile heraus und erleichterte sich ausgiebig am Reifen des Nachbarautos.

“Willst du was essen gehen?”, fragte Frank.

“Nein, ich bleibe hier.”

“Auch keinen Kaffee?”

“Ich habe genug Proviant mit. Ich kann auf den Hund aufpassen, wenn du rein gehen willst. Habe Erfahrung mit Alten…”

Während Anna langsam mit dem Hund über den Rastplatz ging, aß sie ein wenig von dem Brot und dem Hühnchen, das ihre Mutter ihr eingepackt hatte. Mehrmals griff sie in den kleinen Beutel mit ihren Papieren, den sie am Körper trug, zog ihre Hand dann aber wieder heraus. Als Genosse einen besonders interessanten Baum fand und gar nicht mehr von ihm zu trennen war, hielt sie es nicht mehr aus. Sie griff in den Beutel und holte das Foto heraus. Sofort kamen ihr die Tränen.

Als Frank im Eilschritt aus der Raststätte kam, stand sie schon vor dem Auto, die Spuren des Weinens nicht mehr sichtbar, den erleichterten Genossen erschöpft schnaufend an der Leine.

“Da war ein Typ drin”, schnaubte Frank, “der benahm sich unter aller Sau. Der Kaffee war ihm zu dünn. Er schnauzte die Mitarbeiter an… Als würde ihm die Raststätte gehören. Oh Mann. Willkommen im Westen.”

“Vielleicht gehört ihm die Raststätte?”, bemerkte Anna. Frank sah verwundert auf und verstummte.

Im Auto schob Frank eine Rolling-Stones-Kassette in das alte Kassettendeck, und sie verbrachten die nächsten Kilometer mit der Musik, deren Aggressivität bisweilen vom Leiern des Gerätes zu einer klagenden Schlaffheit verfälscht wurde, bis Frank die Kassette mit einem Schlag gegen das Armaturenbrett wieder auf Geschwindigkeit brachte. Anna hing ihren Gedanken nach. Bald würde sie ankommen… Noch 50 Kilometer Freiheit… Noch 40…

“Wo soll ich dich denn rauslassen?” Die Frage unterbrach ihre dösenden Halbgedanken.

“Ich muss ins Südviertel.”

“Oh, alles klar.” Durch seine Sonnenbrille warf er ihr einen Blick zu, der ihr deutlich sagte: Ah, das Südviertel. Da wo die reichen waldorfbeschulten Muttersöhnchen und -töchterchen mit ihren anzugtragenden BMW-Vätern und deren sonnenstudiogebräunten und fitnessstudiotrainierten gut erhaltenen Gattinnen wohnen. Natürlich ist “Freiheit” für die kein Begriff, mit dem sie irgend etwas verbinden. Warum habe ich mich die ganze Fahrt lang nur so abgeplagt, um eine Idee davon rüber zu bringen, was das bedeuten könnte?

Seltsamerweise schaffte es dieser Blick, Annas bisher gut gehütetes Schweigen zu brechen. Ein nicht zu bändigendes blasiges Etwas begann sich in ihrem Bauch zu sammeln und hochzusteigen wie ein schlecht gewordener Krimsekt in einer nachlässig verkorkten Flasche. Mit einem Ruck schnellte sie nach vorn und drehte sich zu ihm, sich mit der kleinen Tasche im Sicherheitsgurt verheddernd.

“Alles klar, alles klar”, äffte sie und verfiel vor Wut in den Akzent, der ihm schlagartig ihre Herkunft ins Bewusstsein rückte, “überhaupt nichts ist ‘alles klar’!”

Er zuckte zusammen und nahm den Fuß vom Gaspedal.

“Mister Freiheit”, fuhr sie fort, “was weißt du denn schon von Freiheit? Hast du schon jemals einmal in die andere Richtung geschaut als nur nach Westen nach Westen? Wahrscheinlich ist dein computergesteuerter Sohn klüger als du, der angeblich die ganze Welt gesehen hat und dafür sogar seine ‘Freiheit’” – sie äffte seine Anführungszeichen-Geste nach – “geopfert hat. Es gibt tatsächlich Leute, die in dieses Viertel fahren und nicht reich sind. Sie kommen nämlich her, um eure Alten zu pflegen, rund um die Uhr, jeden Tag, für ein Gehalt, für das keiner von euch…” Sie brach ab. Frank hatte den Wagen zum Stehen gebracht. Genosse hatte sich bis zum Sitzen erhoben und blickte sie an, die braunen Zähne tapfer gefletscht.

“Es tut mir leid”, sagte sie und lehnte sich im Sitz zurück, die Augen geschlossen.

“Setz mich am Ortseingang ab. Ich laufe das letzte Stück. Hier ist schon mal dein Geld.”

Sie fingerte ihr Geld aus der kleinen Tasche, die sich im Sicherheitsgurt verklemmt hatte. Verschiedene Papiere fielen heraus, die sie hastig wieder hineinstopfte. Das Geld klemmte sie in den Haufen Kassetten, der neben dem Ganghebel zwischen den Sitzen lag. Hinter ihnen hupten Autos, und Frank setzte den alten Renault fluchend wieder in Bewegung.

Vom Rücksitz war ein schmatzendes Geräusch zu hören. Anna drehte sich um.

“Du Scheiß-Genosse!” Sie riss dem Hund das Foto aus dem Maul, das er begonnen hatte zu zerkauen. Frank, der inzwischen nur noch im 2. Gang fuhr, warf einen Blick auf das runde Kindergesicht auf dem Foto und fuhr dann rechts an den Rand. Hupend fuhr die Autoschlange vorbei, die sich hinter ihnen gebildet hatte.

“Dein…”

“Ja, mein Sohn. Tommy.”

Sie hätte den Namen nicht sagen sollen. Die Tränen brachen sich nun Bahn.

“Er – ist zu Hause. Er sitzt noch nicht am Computer wie deiner. Bitte fahr los.”

An der Kreuzung beim Südviertel hielt er an und steckte ihr das Geld zurück in die Tasche. Wütend holte sie es wieder heraus und stopfte es in das Handschuhfach, aus dem ihr einige Kassetten, zerknüllte Papiere und Keksreste krümelreich entgegen stürzten.

Anna sprang aus dem Auto, riss die hintere Tür auf und griff sich hastig ihre Tasche vom Rücksitz.

“Tschüss, Genosse.” Schräg gezogen von der Last der Tasche, hastete sie davon.

“Es tut mir leid – mit der Freiheit und so”, rief Frank ihr nach.

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