Treppenhaus und Primuskocher

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Rohrbruch

An diesem Dezembernachmittag ist es kalt. Es ist so kalt, dass die Tauben sich gruppenweise mit den Krähen auf dem schlecht isolierten Dach des Hauses gegenüber zusammenkuscheln. Mich schauert es, als ich das Fester öffne und mich hinausbeuge. Die Passanten drei Stockwerke unter mir, dick vermummt in ihre Outdoor-Jacken, laufen fast doppelt so schnell wie sonst, um schneller wieder nach drinnen ins Warme zu kommen. Sie eilen wie kleine Computerspielmännlein im Beschleunigungs-Modus herum.
Ich schließe das Fenster schnell wieder. Der eisige Luftschwapp folgt mir bis ins Bad. Ich bin recht aufgeräumt nach der Nachtschicht und dem Schlaf. Von der Wohnung über mir kommen wie immer seltsame Töne: eine Art Poltern, gedämpftes Rumpeln und etwas Höheres, das man nicht beschreiben kann. Vor zwei Jahren, nachdem ich eingezogen war, habe ich versucht, die Quelle der Laute zu ergründen. Den Urheber habe ich aber nie zu Gesicht bekommen. Er ist unsichtbar; möglicherweise gibt es ihn gar nicht. Oder sie. Es gibt nur die Töne.

Unter mir wohnt wahrscheinlich jemand Ähnliches wie über mir; die Geräusche, die von dort kommen, sind aber eher computergeneriert. Nur manchmal ertönt ein Aufschrei, gefolgt von Poltern. Auch daran habe ich mich gewöhnt.

Oben Grummeln und Quietschen, unten Fiepen und kurze Schreie. Es ist alles in Ordnung.
Ich werde mir ein dickes Nachmittagsfrühstück machen und es genüsslich essen. Aber erst einmal duschen. Erst warm, dann kalt. Ich werde dem Winter trotzen. Ich steige in die Dusche und drehe das warme Wasser an. Springe in Panik heraus. Eine Ladung Eisstückchen scheint auf mich niedergegangen zu sein. Ich probiere es noch einmal, diesmal nur mit einem großen Zeh als Erstkontakt mit dem Wasser. Eiskalt. Ich rubbele ich mich ab und ziehe mir meinen wärmsten Wollpullover und meine dickste Jeans an. In Wollstrümpfen stapfe ich zur Heizung und fasse sie an. Sie ist kalt.

Etwa eine halbe Stunde später habe ich alle mir bekannten Flüche mehrfach ausgestoßen und sämtliche beweglichen Teile an allen Heizungen gedreht, gehebelt, geschaltet und geknipst.
Die Nummer der Havariehilfe finde ich am Pinboard, unter einer Schicht anderer Zettel.

Am anderen Ende der Leitung ertönt eine optimistische Computerstimme, die eine sofortige Behandlung des Anliegens ankündigt, wenn man sich einen Moment gedulde. Ein Hit der Neunziger, von einem soften Glockenspiel interpretiert, begleitet mich beim Gedulden. Immer dann, wenn die Melodie interessant werden könnte, schnappt sie wieder zum Anfang. Ich singe mit, ziehe mir Handschuhe an, versuche eine zweite Stimme dazu zu singen. Als mir erst die Geduld und dann die Beschimpfungen ausgegangen sind, lege ich auf. Weitere Nummern, von meinem Smartphone aus dem Netz gefischt, führen mich entweder zur ersten Nummer zurück oder in ähnliche akustische Landschaften. Der Anschluss des Vermieters teilt mit, er sei bis Ende des Jahres nicht zu erreichen, für Notfälle gebe es die Notfallnummer der Havariehilfe. Wahrscheinlich macht er Urlaub auf den Kanaren, wo es schön warm ist.

Während ich mir zwei Jacken anziehe, um mich in die Menge der Eilenden zu mischen und ein warmes Cafe zu suchen, erschreckt mich ein fiepender Ton. Er kommt von der Tür. Es muss die Türklingel an der Wohnungstür sein. Seit ich hier wohne, hat noch nie jemand einfach oben an meiner Tür geläutet. Besucher klingeln unten, auch die Briefträger mit den Amazon-Päckchen, und weil ich meistens schlafe, wenn sie ihre Päckchen abliefern, geben sie alles bei Frau Schneider ab. Die wohnt ganz unten und ist immer da. Ich hole die Päckchen bei ihr ab, ehe sie womöglich auf die Idee kommt, die drei Stockwerke bis zu mir hoch zu kraxeln, und dann bei mir eine Kaffeepause machen will. Das Gute ist: Wenn man selbst hingeht, kann man schnell wieder abhauen.

Ich öffne. Vor der Tür steht ein Unbekannter, vermummt und schnaufend und möglicherweise dick, aber das kann man durch seine mehrschichtige, vor allem aus Filz und Fell bestehende Kleidung hindurch nur ahnen. Was man von seinem Gesicht sieht, ist rötlich. Ich weiche ein Stück zurück, um meine Wohnung zu blockieren, falls er auf Angriff schalten sollte.
„Haben Sie auch nicht Wärme?“, fragt er. Bevor ich begreife, was er meint, erklingt ein Geräusch, das mich an ein Spielzeughündchen meiner Kindheit erinnert, das aus irgendeinem Grund sprechen konnte. Es kommt von hinter dem Mann. Ich gehe noch ein Stückchen zurück. Der Mann zieht ein vermummtes Kind auf seine Arme.
In einer der unteren Wohnungen wird die Tür zugeknallt und dann wieder aufgerissen, um einen langen, unverständlichen weiblichen Redestrom herauszulassen. Die beiden Vermummten, Mann und Kind, antworten gleichzeitig.
„Mussen anrufen Manager“, erklärt der Mann, während das Kind auf seinem Arm mich vertrauensvoll am Jackenkragen ergreift und mitzieht.

Ein Stockwerk tiefer öffnet sich die Tür, als wir vorbei gehen. Ein verstrubbelter bleicher Kopf auf einem spindeldürren Körper erscheint. Der Körper ist außer mit einem angeschmuddelten T-Shirt und Boxershorts nur mit einer fast weißen Gänsehaut bedeckt.
„Haben Sie geklingelt?“, fragt mich der Weißliche mit einer heiseren Stimme, die klingt, als wäre sie lange nicht verwendet worden. Hinter ihm blinken und piepen Bildschirme.
„Ist kein Wärme“, erklärt der dicke Mann, und das Kind, das inzwischen seinen Arm verlassen hat und die Treppen hinunter und wieder herauf gerannt ist, ergänzt: „Wir wollen jetzt den Wohnungseigentümer anrufen, damit er es repariert.“
Die Inhaberin der lauten Stimme von unten, eine vielfach verschalte Frau mit einer Pelzmütze, ist uns ein Stockwerk hoch entgegen gekommen. Beim Anblick des verfrorenen Dünnen in der Tür ruft sie aus: „Müssen anziehen! Ist kalt!“ Sie pellt sich aus der äußersten ihrer Schalen, einer dicken Wolldecke, und wirft sie ihm über. Er erschauert und zieht sie dann fest um sich. Das Kind ergreift einen Zipfel der Decke und zieht auch den neu Eingehüllten mit nach unten in den ersten Stock, wo auch Frau Schneider von ganz unten wartet.

Ich versuche, noch einen Blick auf das Namensschild an der Tür zu werfen, um die Familie wenigstens ansprechen zu können, falls ich einmal zu Wort kommen sollte, kann mir aber im Vorbeigehen die Buchstabenkombination nicht merken, es ist etwas wie Koschtschinski oder Katschonski.
Die Wohnung muss, der Logik folgend, so groß und kalt wie meine sein, wirkt aber viel kleiner und viel wärmer. Zahlreiche wild gemusterte Teppiche und Deckchen bedecken alle waagerechten und senkrechten Flächen. Eine Wand wird von einem Breitbildschirm eingenommen. Eine riesige Schrankwand zieht sich durchs Wohnzimmer, hinter ihren Glastüren stehen bunte Glas-, Holz- und Porzellangefäße. Ich habe den Eindruck, mich in einer größeren Menschenmenge zu befinden: Bunte Bilder von fotografengerecht aufgestellten Menschen aller Altersgruppen blicken mich von überallher an. Auch die Zahl der körperlich Anwesenden ist noch gestiegen; zwei weitere Kinder sitzen auf Kissen und einem riesigen Sofa und blicken aus einer Packung Jacken heraus. Auch sie tragen Pelzmützen.
„Sie haben es ja kuschlig hier!“, ruft Frau Schneider aus und setzt sich auf eins der geblümten Kissen auf dem Sofa.
Herr Koschtschinski oder Katschonski hält dem Bleichen den Hörer eines Telefons hin, das unter dem Bildschirm steht. Mir traut er das Telefonieren wohl nicht zu. Auf dem Bildschirm rennen bunt gekleidete Menschen über eine Art Bühne und tun Dinge, die ich nicht verstehe. Der Ton ist leise gestellt, er hätte mir wahrscheinlich auch nicht geholfen.
Der Bleiche nimmt den Hörer und schaut mich fragend an. Möglicherweise hält er das Geschehen für eine sehr kalte Fortsetzung seines Computerspiels.
„Nummer ist schon getippt!“ ruft Herr Koschtschinski oder Katschonski. Ich halte mein Ohr in die Nähe des Hörers. Die mir schon bekannte Melodie aus den Neunzigern piepst daraus hervor. Wir lauschen gemeinsam eine Weile und geben dann auf.
„Wir haben schon ganzen Tag anrufen probiert“, sagt Frau Koschtschinski oder Katschonski, die mit einer großen Teekanne aus der Küche kommt. Die Kinder stellen bunte Schälchen mit Keksen und glitzernd eingewickelten Konfektstückchen daneben. Der Bleiche starrt auf die Lebensmittel und die dampfende Flüssigkeit, als müsse er sie per Mausklick zum Explodieren bringen und wisse nicht, wie.
„Jungchen, du brauchst Essen“, stellt Frau Schneider fest, „ich hole was.“ Sie schraubt sich aus ihrem weichen Sitz hoch, hält sich an mir fest, und ehe ich es verhindern kann, entfährt mir ein „Soll ich Ihnen helfen?“, und wir gehen im Schneckentempo nach unten.

Ich kann kaum glauben, dass auch diese Wohnung (außer der Kälte) den Grundriss mit meiner Wohnung gemeinsam hat. Frau Schneider muss einmal Fliegerin gewesen sein. Überall hängen Luftbilder. Neben der Tür zur Küche steht die Spitze eines Flugzeuges; an der Wand hängen mehrere Propeller.
Die Ex-Pilotin kommt mit einer prall gefüllten alten Tasche mit einem Lufthansa-Aufdruck aus der Küche, die sie mir zum Hochtragen gibt.
Ich nutze die Zeit, die sie zum Laufen braucht, um kurz nach draußen zu schlüpfen und verstohlen auf die Türschilder draußen zu schauen, die ich bisher noch nie richtig gelesen habe. Der Bleiche heißt J. Wiegler. Justin? Jonas? Johannes? Ich kann ihn doch nicht „Herr Wiegler“ nennen. Das geht irgendwie nicht.

Im Treppenhaus kommt jemand von ganz oben herunter. Der Unsichtbare? Gibt es ihn?
Die Gestalt, in einen schwarzen Mantel und Pantoffeln gekleidet, ist jetzt bei uns angekommen. Sie bleibt vor uns stehen und sieht uns mit seltsamen Augen aus einem fast fleischlosen Gesicht an. Es ist, als wären die Augen nach hinten gerichtet, obwohl sie mich anblicken. Es ist, als hörten diese Augen, statt zu sehen.
„Haben Sie schon den Havariedienst erreicht?“, fragt der jetzt nicht mehr unsichtbare Unsichtbare mit einer Stimme, die extrem viele Basstöne hat.
„Nur die Warteschleife“, antworte ich.
Er nickt und dreht sich wieder um.
„Sind Sie schon seit zwei Jahren mein Nachbar?“, traue ich mich nicht zu fragen.
Als er die Tür von Familie Koschtschinski oder Katschonski erreicht, langt eine haarige Hand mit einem Hörer heraus und holt ihn hinein.

In der koschtschinskischen oder katschonskischen Wohnung ist es inzwischen warm geworden, was vor allem an einem Primuskocher liegt, der mitten im Wohnzimmer auf einem Brett steht. Auf dem Kocher steht ein Topf, dessen Inhalt extrem appetitlich duftet, was sich mit dem Spiritus-Feuer-Geruch zu einem abenteuerlichen Campingplatzaroma vereinigt. Mir wird plötzlich klar, dass ich erstens meine Mutter schon ein paar Wochen lang nicht angerufen und zweitens riesigen Hunger habe.
Der jetzt sichtbare Unsichtbare hält den Hörer, der die uns nun schon vertraute Melodie musiziert, in der Hand und schaut ihn interessiert an.
„Esst, Kinderchen,“ sagt Frau Koschtschinski oder Katschonski.

Es ist noch immer dunkel, aber nicht mehr kalt, als ich mich widerwillig zur Nachtschicht verabschiede, satt und etwas taumelig von den Getränken, die aufgetaucht waren: Ein tödlicher Sherry namens „Flugbegleiter“ von Frau Schneider, Wodka von den Koschtschinskis oder Katschonskis, Red Bull von Johannjoseph (der mir nach der dritten Dose fast weinend seinen Vornamen und noch Schlimmeres anvertraute), Bier aus meinem inzwischen unnötig gewordenen Kühlschrank. Nur der Unsichtbare hatte kein Getränk beizusteuern, dafür spendierte er einen seiner unglaublich gut klingenden selbstgebauten Lautsprecher für die musikalische Gestaltung des Abends. Es stellte sich heraus, dass er selbst Lautsprecher baut und dabei einem hochkomplizierten Gesetz von Bässen und Höhen folgt, das ich nicht verstehe. Ich habe einen Lautsprecher bei ihm bestellt und bin zum Ausprobieren eingeladen.
Auf dem Weg nach draußen schaue ich noch einmal auf die Türschilder. Der Unsichtbare heißt Philipp Weiss. Eigentlich ganz einfach. Dann fällt mir ein, dass die Heizung noch immer kaputt ist. Wir werden uns wohl weiter darum kümmern müssen.

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