Zauberlehrer und Mysterien

Kürzlich sprang mich aus dem Titelblatt einer bisher ernstzunehmenden grünfarbigen Zeitschrift ein gutaussehender oder bis zum Gutaussehen retuschierter junger Mann an, der mit einem sternsprühenden Zauberstab und verträumtem und dennoch entschlossenem Blick vor einer Schultafel in eine optimistische Zukunft zu weisen schien. Aha, dachte ich, Lenin lernt jetzt zaubern.

Ums Lernen ging es in der Tat in dem Artikel mit dem wirklichkeitsscheuen Titelbild.
Man vertrat darin die tröstliche These: Es gibt sie doch, die guten Lehrer! Augenblicklich in meinem Ehrgeiz gepackt, blätterte ich nach, und tatsächlich: Da waren sie! Hübsch mit ihren sie verehrenden Lieblingsklassen in Kunst-der-Zehnerjahre-Fotoposen drapiert, konnte man die Aktivisten bewundern, die uns beweisen: Die Schwierigkeiten, die es in den Schulen gibt, sind nicht dem Schulsystem geschuldet. Man kann sie überwinden. Wahrhaft gute Lehrer fliegen da nur so drüber weg. Sie brennen für ihren Stoff, interessieren sich für ihre Schüler, mit denen sie auch nach der Schule per social media in regem Kontakt sind, und regenerieren ihre Kraft in weitläufig mit ihrem Fach verbundenen Freizeitbeschäftigungen. Sie sehen in jedem Schüler das Gute, das in ihm steckt, und es gelingt ihnen, nach Überwinden des selbstzerstörerischen Widerstandes genau das aus ihm herauszuholen.
Besonders motivierend erscheint mir die Beschreibung einer in Schweden äußerst populären Experimentalfernsehsendung, in der mehrere schwedische Superlehrer auf mehrere schwedische Horrorklassen losgelassen werden und diese zu Höchstleistungskollektiven transformieren.

Meine Ironie ist Ausdruck schieren Neides. Ich möchte auch so ein guter Lehrer sein. In doofe Fotoposen gesteckt oder von schwedischen Fernsehteams verfolgt werden möchte ich nicht, aber ich möchte ein guter Lehrer sein.
Ich will so gern in allen Schülern das Gute sehen, das in ihnen steckt. Es steckt aber bei manchen so sautief drinnen. Ich kriege es nicht raus. Ich komme bei einigen nur bis zu dem Gemülle, das drüber steckt. Ich ertappe mich oft bei einem Gefühl des Aufatmens beim Ertönen der Pausenklingel. Besonders in manchen Klassen. Besonders in einer. Ich bin kein Superlehrer.

Was tun?
Solche Artikel nicht mehr lesen oder einfach nicht glauben oder drauf schimpfen und sich damit als verknöcherter korrekturresistenter ewiggestriger Pauker outen?
Sich weiterbilden?
Sich auf die Erfolge konzentrieren und die Misserfolge an die Regelschulen delegieren?
Mal das Methodenrepertoire erweitern? Sicher wichtig, aber ich habe den Verdacht, darauf kommt es nicht so an. Ich habe festgestellt, dass das Gelingen oder Misslingen einer Stunde mit dem Grad der Vorbereitung und der angewendeten Methodenfülle in einer Verbindung steht wie etwa der Inhalt einer Schülerfrühstückstupperdose mit dem Geschehen an der New Yorker Börse. Es gibt da sicher einen, aber er ist für mich unergründbar.
Wann und warum Unterricht gelingt, bleibt ein Mysterium.

Auch weiteren Mysterien kann man an unserer Schule finden. Sie begegnen einem fortwährend, und wenn man nicht dauernd irgendwas Wichtiges im Kopf oder in großen Taschen von einem Gebäude ins andere tragen müsste, könnte man immerfort darüber nachsinnen.
Hier nur einige Beispiele.
* Der Drucker im Lehrerzimmer druckt jetzt. Klaglos.
* Das Geschirr ebenda ist stets von Wunderhand reinlich gespült und geordnet, allen Kaffeenapfschmuddlern und Sahnetortensabberern zum Trotz.
* Obwohl die Fünft- bis Siebtklässler einen kasernenhofgleich ummauerten winzigen Schulhof haben, um ihre zum Teil überkasernenhofartige Energie auszupowern, und nach den Berechnungen der Wahrscheinlichkeit alle 5,7 Sekunden zusammenstoßen müssten und das auch tun, gab es noch keine Todesfälle. (Nächstes Jahr kommt noch eine weitere Fünfte dazu… Investieren wir lieber in eine Unterführung oder sparen wir auf den Anwalt?)
* Der DVD-Player in meinem Klassenraum ist ein sensibles, ungeselliges Wesen. Wenn mehr als 3 Personen, z.B. eine Klasse, auf seine Videos gucken, verweigert er sich. Sonst funktioniert er tadellos.
* Aus der Anzahl der Mädchentoiletten im neuen alten Gebäude ist zu schließen, dass nur ca. 5 % der Mädchen mal müssen. Selbst wenn sie sich klischeegemäß verhalten und zu zweit gehen, macht das 10%. Verblüffend.
* Unser neuer Träger schickte zum Kennenlernen eine mit Blocks und Stiften ausgerüstete Hospitationseinheit. Vielleicht sind das Scouts gewesen, die einen neuen Artikel schreiben wollen über Spitzenlehrer. Haltet schon mal die Zauberstäbe bereit!

August 2013

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