Mehr und mehr, Gott sei Dank, achten wir darauf, dass die Dinge, die wir essen, einigermaßen ethisch vertretbar hergestellt werden. (Davon ausgenommen sind Lebensmittel, die zu Zeiten niedrigen Lehrerzuckerspiegels auf dem Lehrerzimmertisch vorgefunden werden. Um die soll es hier aber lieber nicht gehen.) Wir möchten, dass die Tiere, die uns Eier, Fleisch und Milch liefern, artgerecht gehalten werden und nicht durchdrehen, einander beißen und deshalb mit Psycho- und anderen Pharmaka vollgestopft werden müssen.
Richtig so! Weiter so! rufe ich uns ermutigend zu, muss aber hinzufügen: Und was ist mit den Schülern? Werden die artgerecht gehalten?
Kürzlich sprachen wir im Unterricht über Berufe und stellten fest, dass Bus- und Truckfahrer oft recht dick sind, weil sie acht Stunden am Tag sitzen. Wir auch, stellte eine Schülerin lakonisch fest, und alle nickten traurig in ihre sackig gewordenen, sitzgewohnten Körper hinein, die alljährlich beim Bockspringen für meine lieben Sportkolleginnen Gefahr für Leib und Leben bedeuten.
Was für eine maßlose Übertreibung einer beschwerdegewohnten Schülergeneration, rufen die Verteidiger des geordneten Schulwesens aus, es gibt ja Pausen!
Diesen Menschen empfehle ich einen Aufenthalt in einer großen Pause auf dem mit einer meterhohen Mauer umgebenen Gebiet von der Größe eines beim Zuschnitt extrem benachteiligten Schrebergartens, das bei uns die Bezeichnung Schulhof trägt. Auf diesem bemitleidenswerten Stück Erde tummeln sich Menschen, deren Längen- Breiten- und Stimmwachstum sie unerbittlich zur Selbsterprobung drängt. Die Dichte ihrer Leiber erinnert an die eines fischreichen, jetzt aber austrocknenden Tümpels. Nicht aber ihre Akustik.
Ein findiger Kollege von der Physikfraktion regte an, einmal eine Messung der Phonstärke auf diesen wenigen Quadratmetern durchzuführen. Er vermutete Werte, die in Fernsehdokumentationen von bedenklich stirnrunzelnden Experten in Diskotheken festgestellt und mit nachhaltigen Gesundheitsschäden in Verbindung gebracht werden. Ich möchte seiner Initiative unbedingt meine Stimme geben und schlage vor, das Ergebnis lautstark öffentlich zu machen.
Außer den nicht artgerecht gehaltenen Schülern versuchten bis vor kurzem noch drei junge, wahrscheinlich taube und schlagunempfindliche Bäume ihr Leben auf diesem misshandelten Stück Land zu fristen.
Inzwischen sind es noch zwei. Einer war wohl etwas sensibler. Er stand einige Monate als totes Mahnmal herum, bis ihn eine ebenso beherzte wie durch den Umgang mit einer besonders artungerecht gehaltenen Klasse gestählte Kollegin kurzerhand absägte.
Der Stumpf gab nun Gelegenheit zu dem, was Menschen jungen Alters natürlicherweise tun: krafterprobendes Spiel mit groben Naturmaterialien. Im Wechselspiel mit dem Novemberregen entstand um den nun in alle Richtungen beweglichen Ex-Baum etwas, das die zur Perfektion neigende Architektur unserer Städte schon fast zum Aussterben gebracht hat: eine Pfütze.
Da Kinder und Pfützen natürliche Verbündete sind und der noch nicht ganz verschüttete Instinkt erwachte, hatten am Tag nach der Pfützenbildung geschätzte 50 % der Kinder nasse Füße. Mit einer Grippewelle ist zu rechnen.
Die oben bereits genannte, ebenso furchtlose wie findige und pausenopferbereite Kollegin hat es nun geschafft, die ebenfalls oben genannte Klasse in einigen Pausen aus der pfützenbereicherten Ummauerung zu befreien. Die Klasse breitet sich nun artgerechter auf dem Kastanienhof aus und versetzt ruhegewohnte Standgrüppchen der Spätbeschulten in erstaunte und unfreiwillige Rotation. Bravo, das ist Zivilcourage und Mut zur Artgerechtigkeit!
Bleibt noch das Problem derjenigen, die sich im Übergang der menschlichen Aggregatzustände befinden, im Wirbelsturm der Emotionen und Niemandsland der Rationalität, in jener Phase, mit deren Existenz der Schöpfer seinen tiefsitzenden Hohn auf alle Pädagogen auszudrückte.
Ich bin der Überzeugung, dass die meisten Menschen zwischen der 7. und der 9. Klasse durch ein mindestens einjähriges Praktikum in einer eher groben handwerklichen Tätigkeit unter klimatisch herausfordernden Bedingungen, gern auch in entlegenen Gebieten, wesentlich mehr Lebenswichtiges für sich gewinnen könnten als in derselben Zeit in einem murrenden, schlafähnlichen Zustand in der Schule.
Ich würde mich gern als Begleiterin zur Verfügung stellen. Denn auch ich werde nicht recht artgerecht gehalten. Aber das ist ein anderes Kapitel.
November 2013