Das Virus ist wieder da.
Diesmal trifft es uns nicht ganz unvorbereitet. Wir haben die Schulcloud installiert, die Schüler zur Registrierung bewegt, uns weitergebildet und mehr oder weniger freiwillig alle Pannen ausprobiert, die so eine Videokonferenz auf Lager hat. Wir haben uns mit Desinfektionsmitteln versorgt und den Einbahnverkehr im Schulgebäude installiert. Wir haben die umweltschonenden Temperaturregler von den Heizungen entfernt, so dass sie nach jeder Lüftung auf Stufe fünf hochheizen können.
An die grundlegenden Probleme haben wir nicht gerührt. Die hocken, tief verankert wie jahrhundertealter Schimmel, in den alten Schulmauern und bremsen uns aus.
Die Klassenstärken.
In den Schulen unseres ansonsten hochentwickelten und reichen Landes steht eine Lehrkraft vor/gegen/inmitten von bis zu dreißig höchst individuellen Schüler*innen.
Diese Schüler*innen sind anders als diejenigen zu den Zeiten, in denen unser Schulsystem entstanden ist. Damals wurde zu Gehorsam und Unterordnung erzogen.
Unsere Kinder sind anders. Sie wurden ihr junges Leben lang schon viel dazu ermuntert, ihre Meinung zu äußern, und tun das mit großer Selbstständigkeit. Sie wollen ihre jungen Fähigkeiten ausprobieren und anwenden. Von klein an sind sie es gewohnt, Entscheidungen selbst zu treffen (Möchtest du das Töpfchen oder die kleine Klobrille? Magst du die Erwachsenen grüßen? Willst du Computer spielen oder rausgehen?) und Entscheidungen anderer zu hinterfragen. (Wieso soll ich denn das Tafelbild abschreiben, wenn ich es auch abfotografieren kann?)
Ein weiterer Unterschied zu früher: Schüler*innen sind digital unterwegs. Sie sind vertraut mit Spielen, fake news, Verführung, ständiger Präsenz. Wenn sie die Schule betreten, kommen sie oft direkt aus dem Dickicht digitaler Überinformation. Immer mehr von ihnen sind schon am Rande der Sucht nach social media oder nach Computerspielen. Manche von ihnen haben sich an diesem Tag noch nicht einmal richtig ausgestreckt oder bewegt, weil sie bisher nur auf den Bildschirm gesehen haben.
Stellen Sie sich nun die hinterfragungsfreudigen, meinungsfreien, noch unbewegten Kinder in einer Klasse vor. Dreißig gleichzeitig. Gern möchte man da als Lehrer*in einzeln leitend und beratend tätig sein, allerdings sind uns physisch Grenzen gesetzt.
Was tun? Eltern sind ratlos. Sie tun, was sie zu tun gewohnt sind: Sie schauen zu, wie ihr Kind sich entwickelt. Außerdem haben viele von ihnen nicht viel Zeit, auch ihre Smartphones brauchen Beachtung. Aber: Für die Bildung ist ja die Schule da. Und digitale Bildung ist auch Bildung!
Was tun? Die Bildungsgesetzgeber sind auch ratlos. Sie tun, was sie zu tun gewohnt sind: Sie erstellen neue Verordnungen. Sie bestimmen, dass digitale Bildung ab jetzt im Lehrplan verankert ist. Das, was keiner so richtig benennen kann, bekommt einen Namen. Medienkunde klingt prima.
Aber da es das Fach ja eigentlich gar nicht gibt, gibt es auch keine Fachlehrer. Das macht nichts, entscheidet man findig, das machen die anderen Lehrer*innen so nebenbei mit. Aber die Lehrer kämpfen selbst noch damit, die sich immer schneller vermehrenden Möglichkeiten der Medien zu durchschauen und zu nutzen. Trotz guten Willens und reger Weiterbildung können sie das Fach, das kein Fach ist, nicht plötzlich unterrichten.
Egal. Wenn sie es nicht richtig unterrichten können, dann sollen sie es wenigstens abrechnen.
Ein neuer Fachbegriff muss her. Medienpass klingt prima. Den sollen die Schulen den Schülern in jedem Jahr ausstellen. Nun können sie sich nicht mehr in der digitalen Welt verlaufen. Sie haben ja einen Pass.
Und die Schule tut, was sie zu tun gewohnt ist: Sie versucht, Verordnungen umzusetzen.
Sie stellt Medienpässe aus.
Sie versucht, die Kinder zu schützen vor dem Überrolltwerden. Erst einmal: Kein Handy in der Schule, kein Handy im Klassenraum. Tausendfach gefordert, beschlossen, angeordnet, nirgends komplett umgesetzt. Denn die jungen Handybenutzer*innen sind schneller, findiger und einfallsreicher als wir Lehrer*innen. Außerdem sind sie mehr. Dreißig gegen einen.
Wieso immer gegeneinander?, fragen die Kreativen, die Weiterdenker und modern Gesinnten. Können wir nicht miteinander lernen und lehren statt gegeneinander? Lasst uns das Smartphone doch nicht als Feind sehen! Es ist ein Freund, ein ständiger Begleiter, ein prima Mittel zum Lehren. Schüler lernen so viel digital! Und so viel besser!
Das ist eine super Idee. Wir Lehrer setzen jetzt Computer ein, packen unsere Fragen in digitale Quizportale, und die Schüler, die die ganze Stunde bisher gedöst haben, holen ihre Handys unter der Bank hervor und spielen jetzt zusammen Kahoot, statt einzeln heimlich unter der Bank.
An dieser Stelle befinden wir uns, als das Virus zuschlägt. Frühjahr 2020. Nach einer Schockphase beginnen wir zögerlich die digitalen Medien zu nutzen. Wir erstellen Aufgaben am Computer und lesen nächtelang die mit dem Handy abfotografierten Lösungen der Schüler.
Wir laden unsere Klassen in die digitalen Klassenräume ein. Da sitzen wir dann vor dreißig Kästchen, die mit den Namen der Schüler*innen beschriftet sind. Aus fünf davon schaut uns ein freundliches Gesicht an, die anderen sind black Boxes, hinter denen sich Schüler verbergen, die im Bett liegen, Chips essen, Gymnastik machen oder Computer spielen.
Wir wursteln weiter, irgendwie teildigital, wir tauschen uns aus, lernen so manches und haben sogar Spaß.
Und dann kommt das Beste. Die Schulen öffnen wieder, die Klassen werden geteilt. Eine Stunde Unterricht, eine Stunde als Aufgaben.
Es ist wie im Paradies. Stille Schüler kommen zu Wort. Man kann in Ruhe einzelnen etwas erklären. Keine Pflaster und Kühlakkus werden mehr gebraucht, jeder hat genug Raum. Keine achte und neunte Stunde mehr mit müden, erschöpften Schüler*innen. Eine Art Gemeinschaftsgefühl entsteht: Wir gegen das Virus. Nicht mehr wir gegen die Schüler*innen.
Ich möchte die Behauptung aufstellen, dass in der Zeit der geteilten Klassen, trotz der geringeren Unterrichtsstundenzahl, die Lernerfolge insgesamt höher waren als in den, ich muss sie so nennen, überfüllten Klassen. Ich kann das nicht wissenschaftlich oder zensurentechnisch beweisen.
Aber jetzt wäre die Zeit dafür.
Wir müssen die Klassen wieder teilen. Dringend. Um uns und den Schülern endlich den Raum zu geben, den wir brauchen: um gesund zu bleiben, an Lunge und Geist.
Und dann müssen wir darüber nachdenken, wie es weitergehen kann: Wollen wir in den alten schimmligen Mauern weiterwursteln oder wollen wir uns weiterentwickeln? Wollen wir die positiven Erfahrungen der Viruszeit weiterführen und in neue, verschlankte Strukturen investieren, die auf die Dauer das Lernen erleichtern? Eine bessere digitale Ausrüstung der Schulen ist ein erster Schritt, der gerade gegangen wird. Eine Verkleinerung der Klassenstärken wäre der zwingend notwendige nächste Schritt.
Wenn dann wieder genug Raum und Luft zum Atmen da ist, fällt uns vielleicht sogar ein, wie wir die digitale Bildung von Schülern, Eltern und Lehrern beginnen können.
November 2020