Ich bin eine 89er, und der Tag, an dem ich meinen Vater zum ersten Mal sehen werde, ist schon sehr nah dran an meinem zwanzigsten Geburtstag.
Ich hatte das Ereignis eigentlich für meinen Achtzehnten geplant, meinen Vater hatte ich eingeweiht in unserer e-mail-Korrespondenz, die wir schon seit einer Weile führen in einem, von seiner Seite grausigen, Englisch. Nur Mama wusste davon noch nichts. Als ich es ihr sagte, schwieg sie eine für sie sehr lange Weile, dann sagte sie: Du kannst es dir wünschen. Planen kannst du es nicht. Dort, wo dein Vater lebt, kann man überhaupt nichts planen.
Aber daran lag es nicht, sondern an den vielen Bescheinigungen, Beurkundungen, Bestätigungen, die es brauchte, bis ich ihn überhaupt einladen durfte. Ich musste nachweisen, dass wir für seinen Krankenhausaufenthalt aufkommen würden, falls er dort landet. Ich musste bescheinigen, dass wir seinen Lebensunterhalt bestreiten, so lange er hier ist. Ich musste beteuern, dass er wieder abfahren würde. Als ich alle Unterlagen ausgefüllt, nachgefragt, Bestätigungen eingeholt, wieder ausgefüllt und beurkundet hatte, war ich nahezu überzeugt, dass mein Vater ein gefährlicher Fressfeind ist, der sich in unser Land einschleichen will, um sich heimlich an unseren medizinischen Geräten zu schaffen zu machen und uns den Joghurt wegzuessen.
Als sie merkte, dass es mir ernst ist, hat Mama auch geholfen mit der Einladung für Vitja, wie sie ihn nennt – wenn sie überhaupt von ihm spricht, was selten geschieht.
Kerstin
Nun hat sie es doch geschafft. Eigentlich wollte ich Vitja nie wiedersehen. Ich habe Tanja ja auch ohne ihn großgezogen. Das kriege ich schon hin, dachte ich damals, als ich aus der Sowjetunion kam mit dem Bauch. Die Uni hatte da noch eine Kinderkrippe.
Dann kam alles anders.
Und in Russland hatte es begonnen.
Als erstes verschwand Gregor Fjodorjewitsch, unser Lehrer für Wiko, wissenschaftlichen Kommunismus. In seinen Seminaren und Vorlesungen hatten wir die schönsten Pullover gestrickt, die Muster waren aus den Burda-Zeitschriften, die irgendeine von uns immer herschmuggelte. Gregor Fjodorjewitsch verschwand mitten im Semester und wurde durch Marja Antonowna ersetzt, eine resolute Blondine mit einer erschreckenden Hornbrille, die den verblüfften Hörsaal zum Mitdenken aufforderte. Wir wussten alle nicht wohin mit unserem Strickzeug.
Dann machten sie ernst. „Die Richtstatt“ von Aitmatow kam heraus, dann „Sarkophag“ über den Unfall von Tschernobyl, der es bis dahin eigentlich offiziell gar nicht stattgefunden hatte. Wir wussten davon nur aus den Westmedien. Noch nie habe ich so viele gute Filme gesehen und gute neue Texte gelesen wie damals.
Was für eine Zeit! Wöchentlich bildeten sich neue Zirkel, die sich abends bei irgendwem im Zimmer oder in einer dieser Gemeinschaftswohnungen trafen, in denen es immer so roch, wie jetzt noch die Rubelscheine riechen. Ich kann einen Rubelschein am Geruch erkennen. Tanja hat schon versucht, mich deswegen bei einer dieser Shows anzumelden. Als ob ich mich mit übergeschlagenen Beinen in viel zu tiefe Sessel setzen und ständig lächelnd wildfremde Menschen duzen würde.
In den charakteristisch riechenden Wohnungen saß man auf der Erde und schmiedete Pläne, wie es weitergehen sollte mit Russland und der Sowjetunion. Was für eine Zeit! Was für Gedanken! Und ach! Vitali Nikolajewitsch! Er war frisch aus Moskau angereist, bekam, wie auch immer, den Posten der Blondine mit der Hornbrille, und das war das endgültige Ende aller Strickzeuge. Meine Freundin Marietta, die heute einer Internet-Community von Messies angehört und damals einfach nur als schlampig galt, hat noch immer einen angefangenen Pullover aus dieser Zeit. Ich habe meinen weggeschmissen, als ich mich von Vitja verabschiedet habe, und von allem anderen…
Was für wunderbare neue Gesellschaften wir aufbauten in Vitali Nikolajewitschs Seminaren! Und abends in seinem winzigen Zimmer in der Gemeinschaftswohnung, in der man immer eine der Omas keifen hörte und jemand in aberwitziger Geschwindigkeit Klavier übte! Wie wir Gerechtigkeit für alle schufen! Was wir aus der riesigen ukrainischen Kornkammer machten, aus den endlosen Ressourcen Sibiriens! Dampferfahrten auf dem Jenissej für Komsomolzengruppen, internationale Jugendcamps an der Lena, geführt von gummistiefelbewehrten Dorfkindern. Die Granatäpfel Usbekistans als Dessert nach ukrainischen Weizenpiroggen mit Krim-Sekt in den Lagern Sibiriens! Zum ersten Mal und mit Grauen hörten wir echte Berichte aus diesen Lagern, mit denen Vitali Nikolajewitsch irgendeine geheimnisvolle Vergangenheit verband. Ich hatte diese Lager bis dahin für eine Erfindung der Westmedien gehalten, so wie dieses Foto, das ich vorige Woche in einer Fotozeitschrift fand. Da hatte die Bild-Zeitung ein Foto einer ostdeutschen Kinderkrippe, in dem die Kleinen allesamt gestreifte Badetücher trugen, als Kindergefängnis in Sibirien ausgegeben.
Die Lager aber waren echt, und zu einem unserer Seminare kam sogar ein ehemaliger Insasse und sprach aus fast zahnlosem Munde vom wahren Kommunismus.
Eine gute, gerechte Gesellschaft bauten wir auf in Vitali Grigorjewitschs Seminaren und Zirkeln. Schluss mit Privilegien und Nomenklatura. Die Sowjetunion – ein Land der Offenheit.
Es war wie im Märchen. Die gute Wassilissa hatte einen unglaublichen Segen aus ihrem wunderbaren Mantel geschüttelt und schwebte mit wehendem blauen Gewand voran, gefolgt von uns, den wuschligen Tieren des Waldes. Die Hexe Baba-Jaga hatte sich in ihr hühnerbeiniges Hexenhäuschen verkrochen und war nicht mehr zu sehen.
Von Zuhause, aus der fernen DDR, sickerten die Nachrichten in gewohnter Dünne, die Briefe mit der gewohnten 14tägigen Verzögerung und den üblichen Spuren der Stasi-Postöffnungsstelle. Kaum zu glauben, es war alles beim Alten. Sie verboten sogar russische Zeitschriften, die dadurch endlich populär wurden. Marietta hat noch die komplette Ausgabe der Zeitschrift „Sputnik“ von 1987 und 1988 auf einem ihrer sich ständig vermehrenden Ikea-Regale stehen, obwohl sie die nie gelesen hat.
Was da drin steht, träumten wir in unserer neuen Glasnost in Vitalis Seminaren, feurig und beseelt.
Ehrlich gesagt, es gab nicht viele gutaussehende Männer vor 21 Jahren in Leningrad. Vitali Nikolajewitsch war eine große Ausnahme. Die schrägen schwarzen Augen, den kühnen Lippenschwung und die schwarzen Locken hat Tanja von ihm und wahrscheinlich noch von Dschingis Khan, so behauptete er jedenfalls.
Einige Seminare und Zirkel lang habe ich widerstanden. Dann wurde ich hinweggetragen von dem kollektiven Enthusiasmus und von Vitja.
Als mein Bauch und ich im Sommer 1989 heimkehrten in die DDR, waren die meisten anderen gerade dabei, sie zu verlassen.
Ich bat Vitja mitzukommen in den Westen, wenigstens bis zu uns in die DDR. Er guckte nur traurig mit seinen großen schrägen Augen und sagte: Es ist noch nicht Zeit für Emigration. Ich muss hier aufbauen.
Ah, die großen Worte! Und ich hatte das Kleine.
Es war schwer mit Tanja am Anfang. Die Welt hatte sich geöffnet, alles reiste überallhin, und ich? Ich blieb zu Hause mit einem Baby. Denn Mütter blieben im Westen zu Hause. Die Uni-Krippe gab es nicht mehr, dafür aber Sozialhilfe für Mütter, die nicht arbeiten gehen konnten. Und Wohnungen. Ich hatte mich schon auf ein Leben bei meinen Eltern eingestellt. Marietta, die eine eigene Wohnung hatte (ihr Vater war in der SED-Bezirksleitung) war in den Westen gegangen, ich zog mit Tnaja in ihre vollgestopfte Wohnung. Als sich die Miete verzehnfacht hatte, zog ich wieder aus…
Warum ich nicht in Russland geblieben bin bei Vitja, wollte Tanja oft von mir wissen, immer dann, wenn wieder Schluss war mit einem Mann, an den sie sich gerade gewöhnt hatte.
Ach Tanjuscha, Wendekind, wirst du mir jemals vergeben? Geh mal, Tanjuscha, geh und lebe unter Fremden. Die dich fragen, ob es stimmt, dass man in Deutschland die Wurst in winzig, winzig dünne Scheibchen schneidet und das Brot auch, das im Übrigen am zweiten Tag schon hart wie Stein ist, und ob es ein Gerücht ist, dass es im Dorf einen Bürgersteig gibt, und die dich auf der Straße anschnauzen, wenn du keine Mütze trägst, und dir im Bus, der dreimal so voll ist wie ein hoffnungslos überfüllter Bus bei uns, riesige Körbe auf den Schoß stellen und gewaltige, scheinbar stahlbewehrte Brüste in den Rücken rammen. Leb da mal.
Und jetzt erst! Wie bin ich froh, hier zu leben und nicht dort! Mafia, Armut, Elend! Wer nur irgend einen Verwandten im Westen aufgabeln kann und die notwendigen Mittel zur Bestechung der Behörden auftreibt, kommt zu uns in den Westen…
Tanja
Dass Vitja her kommt, hat Mama nun akzeptiert. Dass ich danach mit ihm nach Leningrad will, weiß sie noch nicht. Es wird schwer, ihr das zu sagen. Sie hat ja nur mich. Mehr wollte sie nicht, scheint sie nie gewollt zu haben.
Aber ich will mehr.
Ich will weiter sehen als dieses Stück Westen. Als dieses Stück Europa, das sich auf ihre Nabelnarbe, die gefallene Mauer, schaut. Es nennt sich Europa, sperrt aber mit sagenhafter Ignoranz kurzerhand die Hälfte dieses Kontinents aus. Von dort darf nur unter schweren Sicherheitsvorkehrungen und Bescheinigungen aller Art jemand herein. „Das vereinte Europa“ sperrt die anderen Europäer aus, da es sie nicht kennt und auch nicht kennenlernen möchte, weil sie zu arm ist.
Vielleicht bin ich ja ungerecht, meine Heimat so zu beschimpfen. Aber du nennst mich Wendekind, Mama. Die Wende begann im Osten.