Der/die/das Nächste bitte?!

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Wie das Nächste wird?
Folgt es dem Lauf der Geschichte, dann wird es so, wie es keiner für möglich hält. Unglaublich, verrückt, den meisten Gesetzen der Logik widersprechend (selbst wenn die unvermeidlichen Rückblicksexperten hinterher behaupten werden, dass es folgerichtig so kommen musste).
Das Nächste folgt ja aus dem Jetzigen, so wie das Jetzige aus dem Vorigen gefolgt ist.

Aber hat es das wirklich getan?
Das, was wir jetzt haben, ist aus dem Vorigen zwar hervorgegangen wie ein speckfaltenfröhliches, rothaariges Baby aus seiner spindeldürren brünetten Mutter, aber es sieht ihm ebenso wenig ähnlich.

Blicken wir doch einmal in die Zeit, in der das Jetzige noch das unbekannte Nächste war. Was ging denn da woraus hervor? Wie war das damals mit dem Nächsten?

Unaufdringlich Kümmernis schaffend, blendet sich hier die gütige Gestalt meines alten Klassenlehrers ins Bild.
„Lass es doch“, sagt er besorgt in mein rebellisch hocherregtes Gesicht unter der strähnigen Haarmähne der Siebziger, die jetzt in den Achtzigern auch in der DDR angekommen ist, „hör doch auf, mit dem Kopf durch die Wand rennen zu wollen. Das bringt nichts und kann dir nur schaden. Ändern wirst du DAS nicht.“
Die revolutionäre Tat, die ich vorhabe, muss man erklären, denn der darin enthaltene Protest ist für die Bewohner des Nächsten nicht sofort ersichtlich.

Es war das Jahr 1984. Noch zur Erweiterten Oberschule gehend, aber schon volljährig, durfte ich zum ersten Mal an den Wahlen zur Volkskammer der DDR teilnehmen. Die Wahlen waren durch einen besonderen Ritus gekennzeichnet, in dem nur die dabei gewählten Kandidaten und die Freunde absurden Humors auf ihre Kosten kamen: Da es nicht möglich war, zwischen mehreren Kandidaten auszuwählen, denn es gab nur die einen Kandidaten, hätte ein Uneingeweihter glauben können, die Wahl bestünde im Wählen oder Nichtwählen der Kandidaten. Allerdings erforderte ein Nichtwählen ein Betreten der Wahlkabine, was im Ritus der Wahl nicht vorgesehen war. Die Kabine fristete, so es sie überhaupt gab, irgendwo im Hintergrund des Raumes ein unbeachtetes und mitunter sogar unerkanntes Dasein.
Warum, so könnte man sich fragen, gingen denn dann nicht alle die armen stasiüberwachten, mangelgezeichneten und gebeutelten DDR-Bürger nicht hin und strichen die Namen der gehassten SED-Schergen durch?
Vielleicht hätten die, welche den staatsbürgerlichen Akt überwachten, dann ihre Namen aufgeschrieben und es wäre ihnen irgend etwas passiert. Vielleicht. Wenn es aber viele getan hätten, was dann?

Diese Möglichkeit wurde von den Wenigsten erwogen. Ein Ausdruck des Protestes war eher die Verweigerung des gesamten Ankreuzvorganges. Das trauten sich nur diejenigen, die sowieso schon auf der imaginären und legendären Liste standen und ihr tägliches Mischbrot mit wesentlich unter ihrer Qualifikation und ihren Fähigkeiten liegender Tätigkeit verdienten. Möglicherweise trugen sie sich mit dem Gedanken, den östlichen Teil des Landes zu verlassen. Ich hielt aber damals (bevor das Nächste kam) diesen Teil für mein Land und wollte darin nicht unterqualifiziert bleiben. Folglich galt es, an dieser Veranstaltung teilzunehmen.
Es war mir also nicht möglich, zu wählen, wen ich wollte, denn es war ja kein solcher auf der Liste. Es war mir auch nicht möglich, zu wählen, ob ich hingehen wollte. Und nun kam die wirkliche Wahl: Man könnte ja wählen, wann man wollte! Aus Protest, aus klarem, rebellischem Ich-riskiere-hier-fast-meine-Existenz-Gefühl heraus einfach erst abends dreiviertel sechs gehen und ihnen die ganzen 99,9-%-Hochrechnungen durcheinander bringen! Das würde ich machen!

Und hier kam nun mein guter Klassenlehrer ins Spiel. Denn die Schulleitung hatte, um ihre Unterstützung für unseren Staat und seine Parteiführung klar zu demonstrieren, eine freiwillige Verpflichtungserklärung abgegeben: Alle bereits whlberechtigten Schüler der Erweiterten Oberschule würden geschlossen und im Blauhemd um 8 Uhr früh zur Wahl antreten und dabei als besonderes Bekenntnis zum Arbeiter-und-Bauern-Staat das blaue FDJ-Hemd tragen.

Als unser FDJ-Sekretär dies bekanntgab, bäumte sich mein Ehrgefühl, ohnehin schon geschwächt durch das mir bevorstehende flaschige, untertänige, herdenartige Zettelfalten um der Karriere willen, ein letztes Mal auf. Ich gab in der Klasse bekannt, dies nicht tun zu wollen, und stellte die Frage nach dem Sinn dieser frühmorgendlichen Aktion. Zu meiner großen Verwunderung nahm mich an dieser Stelle mein pickliger, immer nur ein und dieselbe Ost-Jeans tragender und nicht besonders intelligenter Klassenkamerad Jan, den ich bis dahin heimlich bemitleidet hatte, beiseite und bedeutete mir, von derartigen Einzelaktionen Abstand zu nehmen, da „wir“ uns dann fragen müssten, ob ich das Vertrauen des Staates, das ein Studium bedeute, überhaupt verdiene.

Dieses „wir“ von Jan und die Kopf-durch-die-Wand-Predigt meines Klassenlehrers machten es völlig unmöglich, sich ein Nächstes überhaupt vorzustellen.
Denn ich bin ja nicht gerannt. Ich habe ein Antragsformular ausgefüllt, mir den staatsbürgerlich zu faltenden Zettel vorher aushändigen lassen, in einen Umschlag gesteckt, den zuständigen Behörden zukommen lassen, um mich am Wahltag, gefüllt mit unterdrückter Wut, in einem Waggon der Deutschen Reichsbahn aus der Stadt zu begeben. Das war kein Mit-dem-Kopf-gegen-die-Wand-Rennen. Das war eher ein Anlaufnehmen und An-der-Wand-entlang-Rennen.
Wäre ich mit dem Kopf durch oder eher gegen die Wand gerannt, hätte sie vielleicht schon eher gewackelt. Oder auch nicht.

Das Nächste jedenfalls war, dass sie umfiel. Einfach so.
Und was war dahinter? Lauter Nächste! Lauter Fremde, Ausländer, die sich auf einmal in unsere Nächsten verwandelten.
Das waren ja seltsame Wesen, die Wessis. Sie dufteten betörend nach guter Seife, Deo und Kaugummi. Sie gaben einem nicht die Hand, und wenn, dann knackten ihre irgendwie sehr weichen Fingerknöchel bei einem Händedruck. Sie hatten Allergien und Hautkrankheiten, die sie mit vielfältigen Westsalben und –pillen behandelten. Sie sprachen mit unerhörter Selbstverständlichkeit oder gar unverzeihlicher Langeweile von Aufenthalten in Orten, deren Namen mir einen exotisch bedingten Schauer über den Rücken rinnen ließen. Sie trugen zu ihrem Typ passende Kleidung aus Naturfasern und coole Lederschuhe. Sie fuhren sanft schaukelnde Autos in grellen Farben, sogar in rot, wurden bei jedem Ostbesuch von ganz normalem Verhalten der Grenzpolizei traumatisiert und fürchteten sich schon vor einem harmlosen Volkspolizisten. Zum Karneval warfen sie Westbonbons herum.
Sie sprachen übermäßig viel von Geld.

Sie wohnten in Städten, die für mich männlich-bedrohlich klangen: Mannheim, Karlsruhe, Kaiserslautern, Ludwigsburg und -hafen. Manche klangen auch wie kurze, harte Schläge: Bonn, Köln, Mainz. Selbst ihre Flüsse waren männlich. Ich fürchtete mich ein wenig vor diesen Orten. Manche ihrer Städtenamen waren einfach so doof, dass ich mich fragte, wie die Westradio-Sprecher es schafften, Staus in diesen Gebieten ernsthaft anzusagen: Baden-Baden, Castrop-Rauxel, Düsseldorf, Pforzheim.
In solchen unsäglichen und bedrohlichen Orten standen sie, wie wir aus dem Radio erfuhren, dauernd im Stau, statt wie wir mit der Deutschen Reichsbahn zu fahren oder in ihren schönen sauberen Häusern zu bleiben, die niemals, so wie unseres, tropfende Dachrinnen hatten.

Und mit diesen fremdartigen Wesen haben wir uns vereinigt. Jan und wer auch immer damals mit ihm zusammen das „Wir“ bildete, haben sich in Luft aufgelöst oder sind erfolgreiche Geschäftsleute geworden. Die blauen Hemden werden nicht mehr in großen Mengen von frühaufstehenden Zettelfaltern getragen, sondern eine Weile gar nicht und dann wieder von einigen ahnungslosen Nachkommen extrem Vergesslicher, die sie, einem heftigen textilen Irrtum verfallen, für modisch halten.
Die Nationale Volksarmee hat sich mit einem Schlag geschlossen in ihren eigenen Feind verwandelt.
Mein gütiger Klassenlehrer, dessen wohlmeinender Rat mich gerade durch seine offensichtliche Wirklichkeitsnähe am Abend vor der Wahl die Kissen voll heulen ließ, hätte es nicht gedacht. Niemand hätte gedacht, dass das Nächste so sein würde.

Die Wand ist weg. Ich kann mir nicht mehr nur aussuchen, wann ich wählen gehe, sondern auch, ob, und sogar, wen ich wähle. Ich muss mich nicht mehr fürchten vor männlich klingenden Orten, sondern kann einfach hinfahren in einem bunten Westauto und dort im Stau herumstehen und von Geld sprechen.

Mein Kind spricht mit großer Selbstverständlichkeit mit seinen Freunden über ihre jeweiligen Austauschjahre in Frankreich und den USA und hat eine Hausstauballergie. Aber was wird es sonst noch haben? Was wird jetzt das Nächste sein?

Das arme Kind hat ja keine Wand, gegen die es rennen kann mit dem Kopf. Um zu protestieren, muss es sich schon was Besonderes einfallen lassen, z.B. die Hose ganz tief unten anfangen lassen oder auf den Lehrer einschlagen oder schießen oder wenigstens damit drohen.

Oder hat es vielleicht doch eine Mauer? Ist es nur schwerer geworden, die Mauer zu finden, gegen die man protestieren muss? Ist sie versteckt, verschönert, bunt bemalt, so wie sie es schon damals war, allerdings nur von einer Seite? Und jetzt sind wir auf der anderen Seite und sehen sie nicht mehr, weil wir nicht in diese Richtung gucken.
Ist sie vielleicht gar nicht eingefallen, sondern bloß ein Stückchen weiter gewandert?

In meinem Drang, mir die Welt anzugucken trotz der Unerreichbarkeit der exotischen Gebiete westlich von meiner Stadt, bin ich ziemlich weit nach Osten vorgedrungen.
In meiner russischen Studienstadt wurde ich beim Versuch, ohne Kopftuch an einem Gottesdienst teilzunehmen, von einer unbezwingbaren Gang beleibter Frauen aus der Kirche geschoben und, während drinnen der Gottesdienst weiter mehrstimmig vor sich hin wob, neugierig zu meinem Heimatland befragt. Gab es dort wirklich Bürgersteige in den Dörfern? Ist es wahr, dass man sich die Wurst in dünnchen-dünnchen Scheibchen schnitt und sie auf ebenso dünne Brotscheibchen legte?
Gab es denn überhaupt genug Brot in Deutschland?, fragte eine, wurde aber schnell von ihren Mitgläubigen zurechtgewiesen. Natürlich gibt es das dort, beeilten sie sich zu versichern, es gibt sogar Marmelade in Hülle und Fülle, auch Fleisch und Butter gibt es dort zuhauf, sie äßen nur alle so wenig davon, um dünnchen-dünnchen zu bleiben, wie die amerikanischen Stars. Musst mehr essen, Kindchen! Und das Brot! Hell und glänzend sähe es aus. Man kann es nur am ersten Tag essen, schon am dritten wäre es hart wie Stein.

An diese Worte musste ich denken, als ich auf meinem ersten Trip damals, als das Nächste begann, von meinem Begrüßungsgeld mein erstes aufgeplustertes Westbrötchen kaufte, anknabberte und vor lauter Nachdenken über die Frage, wer denn nur all die vielen Dinge in den Auslagen kaufen sollte, achtlos in meine Tasche fallen ließ. Als ich es ein paar Tage später, zusammen mit dem Schokoriegel, den mir ein Passant nach einem kurzen Blick auf meinen offenen Mund und meine Schuhe zugesteckt hatte, herausholte, war es tatsächlich hart. Hart wie Stein. (Der Schokoriegel nicht. Der hatte an der Heizung, die mein Vater in den Trabi gebaut hatte, seine Gestalt geändert, schmeckte aber noch sehr gut.)

In dem russischen Wohnheim, in dem wir als Studenten wohnten, gab es eine russische, eine vietnamesische, eine usbekische (obwohl diese für ihre kaufmännischen Fähigkeiten bekannten Studenten offiziell wie auch die Russen als Sowjetbürger zu gelten hatten) und eine deutsche Etage. In der deutschen Etage, so sagten uns unsere russischen Kommilitonen, als sie Vertrauen zu uns geschöpft hatten, duftete es immer gut nach Westseife und Deo. Auch gälten wir als schnell kränkelnd und verfügten über gute Medikamente, modische Kleidung und reichlich, wenngleich zu helle, Schokolade sowie Kaugummi.

Die deutsche Etage, das waren nicht etwa Wessis, das waren wir, die DDR-Studenten. Als ich mit Verblüffung diese Beschreibung aus dem russischen Munde meines Freundes Boris vernahm, war vom damals Nächsten, der unglaublichen Konvertierung unseres kleinen Landes zu einer schon einmal dagewesenen Glaubens- oder Gesellschaftsordnung, nichts zu spüren, wohl aber gab es einen, der still daran arbeitete.
Möglicherweise hatte Genosse Michail Sergejewitsch, als er sein Riesenreich in eine Zone der Nüchternheit zu verwandeln versuchte (das jedenfalls verkündeten Schilder an allen öffentlichen Orten, so auch an unserem Wohnheim), das Übernächste im Sinn.

Und das wäre jetzt das Nächste.

Könnte es, dem Fluss der neuesten Geschichte folgend, der das Unglaubliche passieren lässt, zementierte Mächte zerbröselt wie steinhartes Brot im Ententeich, nicht jetzt eine neue Wende geben? Eine, die den heimlichen Urhebern oder zumindest Nichtverhinderern unserer neuen Freiheit gerecht wird?

Vor kurzem, nun im Nächsten angekommen, machte ich mir die Mühe, eine Vielzahl Bescheinigungen, Beurkundungen, Beantragungen auszufüllen sowie abstempeln und beglaubigen zu lassen. Damit durfte ich die Stadt besuchen, in der jenes Wohnheim stand, dessen vierte Etage wir damals zum Duften nach guter DDR-Seife bewegt hatten.
Das Wohnheim sah noch aus wie früher, das heißt, es sah so aus, als gäbe es hier kein Nächstes, geschweige denn ein Übernächstes. So ging es auch den meisten anderen Häusern. Damals, im Vorigen, war mir das nicht aufgefallen. Jetzt bildete es einen heftigen Kontrast zu dem inzwischen Gewohnten.
Warum war mir früher nicht aufgefallen, dass man bei uns alle Wege anlegte, während Wege hier gewissermaßen natürlich entstanden?
Als ein Milizionär sich näherte, während ich auf dem Spinnennetz matschiger Trampelpfade guckend um das höhlengleiche Gebäude herumstrich, zuckte ich zusammen und erinnerte mich plötzlich an den verschreckten Gesichts- und Körperausdruck unserer Westverwandten beim Anblick eines Volkspolizisten.

Das Mietshaus, in dem mein alter Freund Boris sich eine Wohnung mit mehreren Kollegen teilt, sah ähnlich aus wie das Wohnheim, nur roch es darin anders, was an den verschiedenen Alkoholikern der ersten Etage liegen mochte. Die gab es damals, in der Zone der Nüchternheit, nicht, wohl aber die Gemeinschaftsküchen in den verschiedenen Etagen, die durch einen von verschiedensten Organismen besiedelten Abfallschacht miteinander verbunden waren.

Boris ist, wie ich, von Beruf Lehrer und arbeitet auch als solcher. Im Gegensatz zu mir bekommt er aber nur manchmal Gehalt. Das ist etwa so hoch wie seine Miete. Als ich nach einer halben Flasche Selbstgebranntem den Mut aufbrachte, zu fragen, wovon er denn lebt (und mich dabei wieder mal wie ein Wessi fühle), sagte er lächelnd: Nun, von Lebensmitteln.
Aber wer behält denn dein Gehalt? (Schon wieder das Geld…) – Es ist nicht da, verstehst du? Vieles ist nicht da. Früher – da hat man das bisschen, das da war, besser verteilt. Den größten Teil haben sich die Bonzen genommen. Was übrig war, hat man unter das Volk geworfen. Jetzt nehmen sich die Bonzen alles. Was sie nicht verfressen können, verschieben sie ins Ausland. Es sind übrigens noch dieselben wie früher. Bloß haben sie jetzt keine Grenzen mehr; sie müssen nicht einmal mehr so tun, als wären sie besser als die Kapitalisten. Sie müssen auch nicht zivilisiert wirken wie die im Westen. Sie machen unbehelligt, was sie wollen.

Ich wollte Boris noch verschiedenes fragen; was er den Schülern beibringt, ob er überhaupt jeden Tag in die Schule geht, wie viel ein Auto kostet, wo die ganzen Inhaber der dicken Autos, die ich überall in der Stadt sah, ihr Geld her hatten, wo eigentlich seine Frau ist… In einer Anwandlung von Scham fragte ich das alles aber nicht, und so tranken wir gemeinsam mit den immer zahlreicher werdenden Wohnungs-Kollegen Selbstgebrannten aus der ersten Etage und gerieten ins Philosophieren.

Es ist ein Hundeleben, aber ein wunderbar philosophisches, sagte Boris, nachdem die erste Flasche leer war. Ihr versteht das nicht, ihr im Westen, die immer nur ihre Autos im Sinn haben und ihr Geld. Es gibt doch viel Wichtigeres als Geld und Lebensmittel.
Ich guckte ertappt und machte die nächste Flasche auf, einen Kognak, den ich mitgebracht hatte. Damals hatten wir den zusammen im Restaurant getrunken, einem außerhalb der Zonen der Nüchternheit liegenden Ort des Verruchten, in dem sich Schieber, Spekulanten und Ausländer trafen, alles verdächtige Personen, um zu saufen und Verruchtes zu tun. Beim Durchqueren der von zwei bulligen Wächtern flankierten Tür mussten wir nachweisen, dass wir schon einundzwanzig waren.

Wichtigeres als Geld und Lebensmittel?

Als der Kognak leer war und ich die Lebensgeschichten der Lehrerkollegen kannte, dämmerte eine Ahnung davon in mir herauf.
Vitalij war eigentlich ein Ingenieur-Konstrukteur, der nach dem Zusammenbruch der Maschinenfabrik „Roter Stern“, für die er arbeitete, zum Physiklehrer umschulte und sich in seiner Freizeit mit der Konstruktion von Velomobilen und Flugapparaten befasste.
Shenja hatte jahrelang als Funktionär für den Komsomol gearbeitet und das Privileg genossen, besondere Bücher lesen zu dürfen, die für die Allgemeinheit gesperrt gewesen waren. Er hatte diese Bücher mit der Schreibmaschine für seine Bekannten abgetippt und dafür verschiedene Waren, die auch nicht für die Allgemeinheit bestimmt waren, eingetauscht. Außerdem hat er dadurch eine große Liebe zur Literatur entwickelt, die ihn zum Schreiben verschiedener Werke bewegte, aus denen er uns bei der dritten Flasche, wieder Selbstgebrannter, vorlas. Sein noch unveröffentlichtes Schaffen umfasste fünf Tragödien, zwei Komödien und eine Tragikomödie.

Andrej hatte das Pech, sich in eine Künstlerin verliebt zu haben, die ihn für einen überaus fetten Schweizer verließ, um in die Schweiz auszureisen und von dort feurige Liebesbriefe an ihn zu senden, in denen sie sich bitter über die Kälte der Ausländer und die Höhe der Berge beschwerte. Zwischen Shenjas Monologen der Tragödien und Dialogen der Tragikomödie hörten wir Auszüge aus diesen Briefen an Andrej.

Und dort kam mir der Gedanke. Wie wäre es, wenn das Nächste hier losgehen würde? Wo eigentlich, wenn nicht hier? Das Jetzige, als es noch das unerwartete Nächste war, ist ja auch hier losgegangen. Hier in Russland, in der Wiege, oder besser, dem Empfängnisort unserer sogenannten Wende, dem Mütterchen alles Unglaublichen, der Heimat von Baba-Jaga und dem gutmütigen Bären Mischka. Hier, wo grenzenlose Armut herrscht und man Kosmonauten ins All schickt, , wo man hungert an Orten, die Kornkammern genannt wurden. Wo man stolz ist auf seine abgrundtiefe Traurigkeit, wo Tausende von Intellektuellen ausgerottet wurden und man in den Metros Klassiker liest.
Das Land, dessen Chaos von den Nachkommen derer, die es einmal überfallen und wüst zugerichtet haben, bestenfalls mit kopfschüttelndem Misstrauen betrachtet wird. In das nur Waldorfschulklassen und im Umgang mit Formularen Geübte einmal einen direkten Blick wagen. Von dem man sich besser mit strengsten Einreisebedingungen abschottet.

Sie hätten es doch, beinahe hätte ich das westliche Wort „verdient“ verwendet.
Anders gesagt: Es wäre unlogisch genug, hier in diesem mit Altem und Kaputtem vollgemüllten Reich etwas Neues zu beginnen. Etwas Magisches – etwas, das Ost und West verbindet. Hier könnte es losgehen. Das Nächste. Bitte.

Weimar, den 20. 4. 2010

Christina Müller

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