Ich weiß ja nicht, wie es euch damit geht, aber ich finde eine Unterrichtsstunde in der 5. Klasse nicht ganz einfach. Insbesondere, wenn es sich um eine sechste oder siebte Stunde handelt.
Im Fernsehen sieht man bei Fußballspielen unten am Spielfeldrand eine große Zahl uniformierter Ordner, die breitbeinig mit dem Rücken zum Spielfeld stehen und nichts vom Spiel sehen, weil es zu ihrer Jobbeschreibung gehört, die Zuschauer ständig im Auge zu haben. Die haben mir immer ein bisschen leid getan.
Aber immer wenn ich in eine der oben beschriebenen Stunden gehe, beneide ich sie. Sie sind bewaffnet.
Ich nicht.
Der Kampfbereich beginnt etwa 10 Meter vor der Klassentür im Flur. Erste Ausläufer dessen, was mich erwartet, eilen mir dort bereits entgegen: ursprünglich nicht zum Flug geschaffene, jetzt jedoch mit hoher Geschwindigkeit fliegende Gegenstände. Laute aus dem Urzeitbereich. In Bodennähe befinden sich ineinander verkeilte Jungen, angefeuert oder herumkommandiert von stimmlich hochbegabten Mädchen. Ein Kind mit Bauchschmerzen, beidseitig gestützt von weiteren Kindern, die mir gleichzeitig asynchron Verlauf und Stand der Krankheit schildern. Irgend jemand blutet, meistens aus der Nase.
Wenn es mir gelungen ist, die Tür zu erreichen, springen die im Klassenraum Gebliebenen auf mich zu. Sie haben Nachrichten für mich, die sie mir jetzt mitteilen, und zwar alle gleichzeitig. Die Nachrichten, so entschlüssele ich nach und nach, bestehen aus Informationen über nicht erledigte, nur teilweise erledigte oder durch Erledigung einer völlig anderen Aufgabe ersetzte Hausaufgaben und die Gründe dafür.
Außerdem gibt es Informationen über gerade beendete oder noch andauernde Schlägereien, weggenommene oder anderweitig verschwundene Gegenstände sowie den Hergang der Meinungsverschiedenheiten, die jeweils dazu führten.
Auch neu gehörte oder gelesene Witze werden in dieser Situation gern erzählt.
Wohl dem Lehrer, der sich in dieser Situation auf kleine Rituale aus der Zeit des wilhelminisch-militärischen Drills berufen und einen klar definierten Stundenanfang hervorzaubern kann. Den anklagenden und verwundeten Blicken der von Reform- und Alternativschulen kommenden Kinder gilt es hier mit stählernem Blick zu begegnen.
Im Stundenverlauf zeigt sich dann, dass auf unterschiedlichste Bedürfnisse eingegangen werden muss. Dem athletischen Bewegungsdrang der einen steht der mittagsschlafbedürftige Rhythmus der anderen gegenüber. Persönliche Abneigungen drängen nach Raumgebung. Hunger nach neuem Stoff geht mit einer gewissen Fremdheit im Umgang mit Schreibgeräten und Buchstaben eine hochpotente Kreuzung ein.
All das verlangt nach Sauerstoff.
Öffnet man das Fenster, wird der Klassenraum von einer Armee Achtbeiner auf der Suche nach einem warmen Winterquartier eingenommen. Trotz ihrer Ursprünglichkeit und Unverdorbenheit sind einige der Mädchen mit den gängigen Klischees vertraut und kreischen hollywoodseriengleich, um die ebenfalls klischeekundigen Jungen zu spinnenhaltigen Heldentaten anzufeuern.
Die Aufforderung wird gern angenommen.
Die Herausforderung, das weiß jeder und jede von uns, besteht darin, jedes Kind da abzuholen, wo es gerade ist, und nach seinen Möglichkeiten zu fördern. Oder?
Ich feile noch an Schlüsseln zum Überleben in diesen Umständen.
Einer heißt: Methodenwechsel alle 2 Minuten.
Ein anderer, ein extrem sensibles und vieldimensionales Gebilde, trägt den Namen Sitzplan.
Ein weiterer: Nutzung aller räumlichen und körperlichen Möglichkeiten.
Ein hier auch noch genannt sein Wollender: die Einführung fester, wenn auch einengender Regeln wie Verbleiben auf dem eigenen Platz oder korrektes Schreiben ganzer Wörter.
Einen besonderen Höhepunkt in der Stunde bildet die Rückgabe eines Tests. Aber das ist eine eigene Kolumne wert.
Ich wäre dankbar für weitere Hinweise auf diesem Gebiet. Ich habe viele späte Stunden in 5. Klassen.
September 2013